Judenfeindschaft und Verfolgung

Werner Bergmann
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Zusammenfassung


Mit dem Men­schen­rechts­ge­dan­ken, dem neuen Staats­den­ken der Auf­klä­rung sowie dem ge­sell­schaft­li­chen Um­bruch von der ständisch-​korporativen zur bürgerlich-​kapitalistischen Ge­sell­schaft erhob sich ab Ende des 18. Jahr­hun­derts in allen eu­ro­päi­schen Staa­ten die For­de­rung nach einer ge­sell­schaft­li­chen In­te­gra­ti­on der Juden. Diese nah­men da­mals als eine recht­lich au­to­no­me Kor­po­ra­ti­on eine Au­ßen­sei­ter­po­si­ti­on in der Ge­sell­schaft ein. Die recht­li­che Gleich­stel­lung der Juden stieß von An­be­ginn an bei vie­len ge­sell­schaft­li­chen Grup­pen auf Ab­leh­nung. Neben tra­di­tio­nel­len re­li­giö­sen und öko­no­mi­schen Mo­ti­ven wur­den be­reits kul­tu­rel­le, na­tio­na­lis­ti­sche und pro­to­ras­sis­ti­sche Ar­gu­men­te be­nutzt, um – zum Teil ge­walt­sam – die recht­li­che Gleich­stel­lung der Juden zu be­kämp­fen. Diese Form der Ju­den­feind­schaft ver­schärf­te sich mit den kri­sen­haf­ten so­zia­len und kul­tu­rel­len Um­brü­chen der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts und nahm unter dem neuen Be­griff des An­ti­se­mi­tis­mus die Form einer so­zia­len und po­li­ti­schen Be­we­gung an. Auch wenn die an­ti­se­mi­ti­schen Par­tei­en und Or­ga­ni­sa­tio­nen im Kai­ser­reich po­li­tisch mar­gi­nal blie­ben, so ge­lang ihnen doch die Eta­blie­rung der an­ti­se­mi­ti­schen Ideo­lo­gie in be­stimm­ten so­zia­len Mi­lieus.

Der Erste Welt­krieg und die un­mit­tel­ba­ren Nach­kriegs­fol­gen (Re­vo­lu­ti­on, Wech­sel des po­li­ti­schen Sys­tems, Ver­sailler Ver­trag) rück­ten einen ra­di­ka­li­sier­ten An­ti­se­mi­tis­mus von der Pe­ri­phe­rie ins po­li­ti­sche Zen­trum der Wei­ma­rer Re­pu­blik. Die­ser ver­band sich nun mit dem skru­pel­los und teils ge­walt­tä­tig ge­führ­ten Kampf gegen die als „Ju­den­re­pu­blik“ ge­schmäh­te De­mo­kra­tie. Die Ju­den­feind­schaft nahm in den frü­hen 1930er-​Jahren immer ex­tre­me­re For­men an und führ­te wäh­rend der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft zur völ­li­gen Ent­rech­tung und so­zia­len Aus­gren­zung sowie schließ­lich zur Er­mor­dung der eu­ro­päi­schen Juden. Der „An­ti­se­mi­tis­mus nach Ausch­witz“ knüpf­te an die Mo­ti­ve des über­lie­fer­ten An­ti­se­mi­tis­mus an, hinzu kamen je­doch neue Mo­ti­ve, wie der Schuldabwehr-​An­ti­se­mi­tis­mus, der das Ge­sche­he­ne leug­net oder die Schuld daran ab­wehrt. Mit der Grün­dung des Staa­tes Is­ra­el trat und tritt der An­ti­se­mi­tis­mus zu­nächst in den Ost­block­staa­ten, dann ab dem Sechs-​Tage-Krieg von 1967 auch im Wes­ten in Form der Is­rael­kri­tik und des An­ti­zio­nis­mus auf.

Antijüdische Unruhen im 18. Jahrhundert


In der Ge­schich­te Ham­burgs, das seit dem 17./18. Jahr­hun­dert zu den Zen­tren jü­di­schen Leben in Deutsch­land zähl­te, spie­geln sich die skiz­zier­ten Pha­sen der Ju­den­feind­schaft wider. Zu­gleich för­der­ten Senat und Bür­ger­schaft lange Zeit die ge­sell­schaft­li­che In­te­gra­ti­on der Juden, da diese auf­grund ihrer in­ter­na­tio­na­len Kon­tak­te für eine Hafen-​ und Han­dels­stadt mit ihrem Über­see­han­del eine wich­ti­ge Rolle spiel­ten. Schon vor Be­ginn der Eman­zi­pa­ti­ons­de­bat­ten war es zu Strei­tig­kei­ten zwi­schen dem Rat der Stadt und der kirch­li­chen Or­tho­do­xie über die An­we­sen­heit von Juden ge­kom­men, die wie­der­holt als Blitz­ab­lei­ter bei der Aus­tra­gung so­zia­ler Kon­flik­te her­hal­ten muss­ten. Dabei kam es zu ge­walt­tä­ti­gen Aus­schrei­tun­gen, mit denen gegen recht­li­che Zu­ge­ständ­nis­se an die Juden pro­tes­tiert wurde, so 1730 in einem „Ju­den­tu­mult“ („Ge­seroth Hen­kel­pött­che“) in der Ham­bur­ger Neu­stadt, die 1746 und 1749 er­neut Schau­platz an­ti­jü­di­scher Ge­walt wurde.

Judenemanzipation und gewalttätiger Protest in Hamburg


Die im Zuge von po­li­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Re­for­men, wie der re­li­giö­sen Gleich­stel­lung aller Bür­ger (in Ham­burg 1819), der Ge­wer­be­frei­heit, der Be­sei­ti­gung wirt­schaft­li­cher Hemm­nis­se, des Auf­bau­es eines staat­li­chen Schul­we­sens, der Wehr­pflicht, der Nie­der­las­sungs­rech­te, nö­ti­ge Neu­be­stim­mung der ge­sell­schaft­li­chen Po­si­ti­on der Juden führ­te seit dem Ende des 18. Jahr­hun­derts zu einer sich über Jahr­zehn­te er­stre­cken­den Aus­ein­an­der­set­zung, die in Par­la­ments­de­bat­ten, Schrif­ten­kämp­fen, aber auch mit­tels ge­walt­tä­ti­gem Pro­test ge­führt wurde. Der Pro­zess der Eman­zi­pa­ti­on war bis zur völ­li­gen Gleich­stel­lung der Juden im ge­sam­ten Deut­schen Reich im Jahre 1871 ge­prägt von einem Zick­zack­kurs von recht­li­chen Ver­bes­se­run­gen und Rück­schrit­ten. In der Eman­zi­pa­ti­ons­zeit kam es wie­der­holt zu an­ti­jü­di­schen Aus­schrei­tun­gen, in denen sich der Wi­der­stand gegen die Zu­er­ken­nung staats­bür­ger­li­cher Rech­te und damit ver­bun­de­ner wirt­schaft­li­cher Mög­lich­kei­ten für die Juden ar­ti­ku­lier­te. Diese hat­ten 1806 nach der Er­obe­rung Ham­burgs durch na­po­leo­ni­sche Trup­pen die völ­li­ge Gleich­be­rech­ti­gung er­hal­ten, doch setz­te nach dem Fall Na­po­le­ons ein pu­bli­zis­ti­scher Kampf um die Re­vi­si­on die­ser „li­be­ra­le­ren Ju­den­ge­set­ze“ ein. So warn­te Lud­wig Holst, der sich seit 1799 in Ham­burg einen Namen als Wirt­schafts­fach­mann er­wor­ben hatte, mit sei­ner Schrift „Über das Ver­hält­niß der Juden zu den Chris­ten in den deut­schen Han­dels­städ­ten“ 1818 vor der „so­zia­len Gä­rung“ wegen des wirt­schaft­li­chen Er­folgs und des de­mo­gra­fi­schen Wachs­tums der Juden, die mit einer „lau­ten Em­pö­rung“ enden könne. In einem wei­te­ren Buch schob Holst 1821 die Schuld an den ak­tu­el­len wirt­schaft­li­chen Pro­ble­men der Hand­wer­ker und mitt­le­ren Kauf­mann­schaft der wirt­schaft­li­chen Macht der Juden zu. Zwi­schen den bei­den Pu­bli­ka­tio­nen Holsts hatte die von Würz­burg im Som­mer 1819 aus­ge­hen­de Welle der an­ti­jü­di­schen Hep-​Hep-Unruhen auch Ham­burg er­reicht, die sich hier am Kaf­fee­haus­be­such jü­di­scher Gäste in den Pa­vil­lons an der Bin­nen­als­ter ent­zün­de­ten, der als ein Über­schrei­ten bür­ger­li­cher Ge­sel­lig­keits­gren­zen und als An­ma­ßung so­zia­ler Rech­te emp­fun­den wurde. Die Un­ru­hen brei­te­ten sich in an­de­re Stadt­tei­le aus und konn­ten nur durch den Ein­satz des Bür­ger­mi­li­tärs und die Ver­hän­gung des Aus­nah­me­zu­stan­des be­en­det wer­den. Zwar tra­ten die füh­ren­den Schich­ten Ham­burgs für die bür­ger­li­che Gleich­be­rech­ti­gung der Juden ein, wäh­rend die Geg­ner aus den Zünf­ten und dem Krame­ramt die jü­di­sche Kon­kur­renz in Hand­werk und Han­del fürch­te­ten. Der Senat aber nutz­te die Un­ru­hen, um die Ge­wäh­rung der vol­len Bür­ger­rech­te an die Juden auf­zu­schie­ben, indem er ihnen eine ge­wis­se Mit­schuld zu­schrieb. Mit­glie­der der jü­di­schen Ge­mein­de ver­lie­ßen des­halb Ham­burg in Rich­tung Al­to­na.


Schlä­ge­rei zwi­schen Juden und Chris­ten wäh­rend der an­ti­jü­di­schen Aus­schrei­tun­gen in Ham­burg 1835
Quel­le: Staats­ar­chiv Ham­burg, 720-1, 220-1.


Die Ur­sa­chen für die an­ti­jü­di­schen Un­ru­hen in den Jah­ren 1830 und 1835 un­ter­schie­den sich kaum von denen von 1819. Die zünf­ti­gen Hand­wer­ker und die im Krame­ramt or­ga­ni­sier­ten Kauf­leu­te fühl­ten sich durch die Sen­kung der Ein­fuhr­zöl­le, durch De­bat­ten über die Struk­tur der Zünf­te be­tref­fen­de re­for­mier­te Ge­setz­ge­bung, eine neue Ge­sin­de­ord­nung sowie die Neu­ord­nung des Bür­ger­rechts be­droht. Eine Grup­pe von Juden um Ga­bri­el Ries­ser hatte 1834 in einer „Denk­schrift über die bür­ger­li­chen Ver­hält­nis­se der Ham­bur­gi­schen Is­rae­li­ten“ die völ­li­ge recht­li­che Gleich­stel­lung der Juden in Ham­burg ver­langt, zu der auch die Ge­wer­be­frei­heit ge­hör­te. Die Kri­tik der Pro­tes­tie­ren­den zeigt, dass die Juden zwar als „Sün­den­bö­cke“ für eine Un­zu­frie­den­heit mit der Se­nats­po­li­tik her­hal­ten muss­ten, dass sie aber nicht zu­fäl­lig ge­wählt wor­den waren, son­dern als eine po­li­tisch be­güns­tig­te, sich durch Zuzug stän­dig ver­grö­ßern­de frem­de Grup­pe ge­se­hen wur­den. Die Un­ru­hen von 1835 kön­nen so als letzt­lich er­folg­rei­cher Ver­such gel­ten, die wei­te­re Gleich­stel­lung der Juden in Ham­burg zu ver­hin­dern. Trotz der Ver­su­che ge­ra­de die un­te­ren Klas­sen zu Un­ru­hen gegen die jü­di­schen Kauf­leu­te auf­zu­wie­geln, blieb es im Zuge der So­zi­al­pro­tes­te in der Re­vo­lu­ti­on von 1848 in Ham­burg ruhig. Al­ler­dings wurde die Ham­bur­ger Vor­stadt St. Pauli am 13.5.1848 zum Schau­platz von Aus­schrei­tun­gen, die ihren Ur­sprung zu­meist im Handwerker-​ und Kauf­manns­mi­lieu hat­ten.

Vorboten des politischen Antisemitismus nach 1848


Trotz der re­stau­ra­ti­ven Wende nach der ge­schei­ter­ten 1848er-​Revolution sorg­te der er­star­ken­de wirt­schaft­li­che und po­li­ti­sche Li­be­ra­lis­mus für ein po­li­ti­sches Klima, das die end­gül­ti­ge recht­li­che Gleich­stel­lung der Juden be­güns­tig­te. In Ham­burg er­folg­te dies aber erst 1860. Es waren ehe­ma­li­ge Linke und Li­be­ra­le, wie Ri­chard Wag­ner oder Bruno Bauer, die nun, ent­täuscht von der nach ihrer An­sicht trotz der Eman­zi­pa­ti­on man­geln­den As­si­mi­la­ti­ons­be­reit­schaft der Juden, mit ju­den­feind­li­chen Schrif­ten her­vor­tra­ten. Dazu zähl­te auch der spä­ter als „Vater der an­ti­se­mi­ti­schen Be­we­gung“ apo­stro­phier­te Po­li­ti­ker und Jour­na­list Wil­helm Marr. Auch in Ham­burg war die Ju­den­eman­zi­pa­ti­on nach 1848 ein Streit­punkt in der sich ent­wi­ckeln­den po­li­ti­schen Ri­va­li­tät zwi­schen „Li­be­ra­len“ und „Ra­di­ka­len“. Der „Ra­di­ka­le“ Marr zeich­ne­te dar­auf­hin in sei­nem „Ju­den­spie­gel“ 1862 ein ne­ga­ti­ves Bild vom Ju­den­tum und warf den Re­form­ju­den vor, po­li­ti­schen Re­for­men ab­ge­schwo­ren zu haben. Dass die po­li­ti­sche Stim­mung in Ham­burg sei­ner Po­si­ti­on ent­ge­gen­stand, zei­gen so­wohl die Ver­öf­fent­li­chung der sa­ti­ri­schen Flug­schrift „Der Ju­den­fres­ser“ im Juni 1862 als auch die Ent­rüs­tung, die sich im po­li­ti­schen Ham­burg gegen Marr erhob.

Antisemitismus als politisch-soziale Bewegung


Be­reits nach der als Grün­der­krach be­zeich­ne­ten Wirt­schafts­kri­se der frü­hen 1870er-​Jahre be­gann die Stim­mung im neu ge­grün­de­ten Deut­schen Kai­ser­reich um­zu­schla­gen. Reichs­kanz­ler Bis­marck setz­te auf eine pro­tek­tio­nis­ti­sche Wirt­schafts­po­li­tik und voll­zog einen Kurs­wech­sel zum kon­ser­va­ti­ven Lager. Damit ge­rie­ten die Juden als Par­tei­gän­ger des Li­be­ra­lis­mus und der So­zi­al­de­mo­kra­tie auf die Seite der po­li­ti­schen Geg­ner. Man warf ihnen vor, für die Grün­der­kri­se und die dring­li­cher wer­den­de „so­zia­le Frage“ ver­ant­wort­lich zu sein. Die an­ti­se­mi­ti­sche Be­we­gung hatte ihren Aus­gangs­punkt in Ber­lin, wäh­rend ihr in Ham­burg so­wohl die städ­ti­sche Po­li­tik wie auch die Kauf­mann­schaft, die wei­ter­hin für Li­be­ra­lis­mus und Frei­han­del ein­tra­ten, re­ser­viert ge­gen­über­stan­den. Erst in den 1890er-​Jahren be­gann der po­li­ti­sche An­ti­se­mi­tis­mus auch dort in ei­ni­gen Bür­ger­ver­ei­nen auf Re­so­nanz zu sto­ßen. 1893 wur­den Ab­ge­ord­ne­te für die Deutsch­so­zia­le Par­tei in die Ham­bur­ger Bür­ger­schaft ge­wählt und 1897 grün­de­te sich in Re­ak­ti­on auf die christlich-​soziale Be­we­gung des Ber­li­ner Hof­pre­di­gers Adolf Sto­ecker ein „An­ti­se­mi­ti­scher Wahl­ver­ein“, des­sen ers­ter Vor­sit­zen­der Fried­rich Raab war. Raab war Mit­glied der Bür­ger­schaft und des Reichs­ta­ges, in dem er von 1898 bis 1903 die an­ti­se­mi­ti­sche Deutsch-​soziale Re­form­par­tei ver­trat.

Trägerschichten des Antisemitismus


Zu den Trä­ger­schich­ten des An­ti­se­mi­tis­mus zähl­ten in die­ser Phase vor allem die Hand­wer­ker, die durch die Auf­lö­sung ihrer kor­po­ra­ti­ven Ein­bin­dun­gen und den Zu­mu­tun­gen der ka­pi­ta­lis­ti­schen Markt­wirt­schaft ver­un­si­chert waren und in den Juden die Ver­ur­sa­cher ihrer Mi­se­re sahen. Auch die neue Be­rufs­grup­pe der kauf­män­ni­schen An­ge­stell­ten, die sich 1893 in Ham­burg mit dem „Deut­schen Handlungsgehülfen-​Verband“ (ab 1896 „Deutsch­na­tio­na­ler Handlungsgehilfen-​Verband“, DHV) eine In­ter­es­sen­ver­tre­tung schuf, ori­en­tier­te sich an der völ­ki­schen und an­ti­se­mi­ti­schen Be­we­gung und ver­wehr­te Juden die Mit­glied­schaft. Als „na­tio­na­le Ge­werk­schaft“ rich­te­te sich der DHV gegen die als „an­ti­na­tio­nal“ gel­ten­de So­zi­al­de­mo­kra­tie und das „jü­di­sche Groß­ka­pi­tal“. Mit der Han­sea­ti­schen Ver­lags­an­stalt besaß der DHV ein Forum zur Ver­brei­tung völkisch-​an­ti­se­mi­ti­scher Schrif­ten. Nach 1900 un­ter­stütz­te der DHV an­ti­se­mi­ti­sche Par­tei­en und an­de­re Ver­ei­ne per­so­nell wie fi­nan­zi­ell. Mit Al­fred Roth, der von 1900 bis 1917 als Bildungs-​ und So­zi­al­re­fe­rent in der Ham­bur­ger Zen­tra­le des DHV ar­bei­te­te und 1919 eine trei­ben­de Kraft bei der Grün­dung des Deutsch­völ­ki­schen Schutz-​ und Trutz­bun­des war, be­her­berg­te Ham­burg einen der da­mals ak­tivs­ten an­ti­se­mi­ti­schen Agi­ta­to­ren.

Die Radikalisierung des Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg


Kriegs­nie­der­la­ge, Re­vo­lu­ti­ons­furcht, öko­no­mi­scher Kol­laps und die Bru­ta­li­sie­rung des po­li­ti­schen Le­bens führ­ten in Deutsch­land zu einer bis dahin un­be­kann­ten Mo­bi­li­sie­rung des An­ti­se­mi­tis­mus. Er ma­ni­fes­tier­te sich in Schrif­ten, öf­fent­li­cher Agi­ta­ti­on und ge­walt­tä­ti­gen Über­grif­fen und ver­band sich mit dem Kampf gegen die als „Ju­den­re­pu­blik“ ge­schmäh­ten Wei­ma­rer Re­pu­blik. In die­sem neuen de­mo­kra­ti­schen Staat konn­ten Juden tat­säch­lich zum ers­ten Mal hohe po­li­ti­sche Po­si­tio­nen ein­neh­men, wie Walt­her Ra­thenau als Au­ßen­mi­nis­ter und Hugo Preuß als In­nen­mi­nis­ter auf Reichs­ebe­ne oder Leo­pold Lipp­mann als Staats­se­kre­tär und Carl Cohn als Fi­nanz­se­na­tor in Ham­burg. An­ti­de­mo­kra­ti­sche und völkisch-​an­ti­se­mi­ti­sche Grup­pen hat­ten star­ken Zu­lauf. Haupt­ak­teur war der Deutsch­völ­ki­sche Schutz-​ und Trutz­bund (DVSTB), der als Dach­or­ga­ni­sa­ti­on eine Viel­zahl rechts­ex­tre­mer Bünde und Or­ga­ni­sa­tio­nen unter sich ver­ein­te.

Dem Vor­wurf der man­geln­den Kriegs­be­tei­li­gung der Juden, dem das Kriegs­mi­nis­te­ri­um wäh­rend des Krie­ges 1916 auf Druck der rech­tex­tre­men Grup­pie­run­gen, die den Vor­wurf der „jü­di­schen Drü­cke­ber­ge­rei“ er­ho­ben hat­ten, wurde mit der so­ge­nann­ten Ju­den­zäh­lung nach­ge­gan­gen. Auch wenn dem so­wohl von jü­di­scher wie nicht­jü­di­scher Seite wi­der­spro­chen wurde, ver­fes­tig­te sich in der Be­völ­ke­rung im Kon­text der „Dolch­stoß­le­gen­de“ doch das Bild der „jü­di­schen Drü­cke­ber­ge­rei“. Au­ßer­dem wurde Juden, wie etwa dem Ham­bur­ger Ree­der Al­bert Bal­lin, vor­ge­wor­fen, sich wäh­rend des Krie­ges wirt­schaft­lich be­rei­chert zu haben. Die an­ti­se­mi­ti­sche Agi­ta­ti­on setz­te neben Buch­pu­bli­ka­tio­nen, wie den „Pro­to­kol­len der Wei­sen von Zion“, auf mo­der­ne Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel wie Hand­zet­tel, Flug­blät­ter und Kle­be­mar­ken, die der DVSTB in mil­lio­nen­fa­cher Auf­la­ge ver­brei­te­te und die häu­fig in Ham­burg her­ge­stellt wur­den.


Neben die­sem Aus­druck eines or­ga­ni­sier­ten po­li­ti­schen An­ti­se­mi­tis­mus exis­tier­ten in der Wei­ma­rer Re­pu­blik wei­ter­hin auch die schon im Kai­ser­reich aus­ge­präg­ten, sich nun aber ver­schär­fen­den For­men an­ti­jü­di­scher Ein­stel­lun­gen und Pra­xen im All­tags­le­ben, wie sie sich etwa im Aus­schluss aus Ver­ei­nen und im so­ge­nann­ten „Bä­der­an­ti­se­mi­tis­mus“ ma­ni­fes­tier­ten.


Brief­ver­schluss­mar­ke von 1933
Quel­le: Samm­lung Wolf­gang Haney.


Doch blieb es nicht bei Pro­pa­gan­da und Schmäh­lie­dern. Viel­mehr sind die frü­hen 1920er-​Jahre durch sich häu­fig gegen pro­mi­nen­te Juden, wie etwa Rosa Lu­xem­burg oder Walt­her Ra­thenau, rich­ten­de po­li­ti­sche At­ten­ta­te sowie durch eine reichs­wei­te Welle an­ti­jü­di­scher Aus­schrei­tun­gen ge­kenn­zeich­net. Davon blieb Ham­burg aber ver­schont. Die Tat­sa­che, dass die Ham­bur­ger Bür­ger­schaft schon 1920 über An­ti­se­mi­tis­mus de­bat­tier­te, weist aber dar­auf hin, dass man ihn auch hier früh eben­so als ein erns­tes Pro­blem emp­fand wie die jü­di­schen Ge­mein­den, der Cen­tral­ver­ein deut­scher Staats­bür­ger jü­di­schen Glau­bens (CV) oder die „Zio­nis­ti­sche Ver­ei­ni­gung“, die sich gegen an­ti­se­mi­ti­sche An­grif­fe wand­ten. Auch in Ham­burg, wo sich ei­ni­ge Rats­mit­glie­der im Ver­ein zur Ab­wehr des An­ti­se­mi­tis­mus en­ga­gier­ten, wehr­te sich die­ser Ver­ein, die jü­di­sche Pres­se und die jü­di­sche Ge­mein­de mit An­zei­gen wegen Volks­ver­het­zung oder Hin­wei­sen auf den an­wach­sen­den An­ti­se­mi­tis­mus im Deut­schen Reich an den Ham­bur­ger Senat.

Die Verschärfung des antisemitischen Klimas in der Weltwirtschaftskrise


Nach einem ge­wis­sen Ab­flau­en des An­ti­se­mi­tis­mus Mitte der 1920er-​Jahre bil­de­ten die Welt­wirt­schafts­kri­se, die sich auch in Ham­burg zur Staats­kri­se aus­wuchs, und der damit ver­knüpf­te Auf­stieg der NSDAP einen Wen­de­punkt. Im sich nun ra­di­ka­li­sie­ren­den Kampf um die po­li­ti­sche Vor­herr­schaft wur­den Juden zum be­vor­zug­ten An­griffs­ziel. Ab 1928/29 und ver­stärkt mit den Wahl­er­fol­gen ab 1930 be­gann die NSDAP wie­der mit an­ti­jü­di­schen Pla­kat­ak­tio­nen, Über­fäl­len, Be­dro­hun­gen und Boy­kot­ten. An den hö­he­ren Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten drang­sa­lier­ten die NS-​Schülerschaft bzw. NS-​Studentenschaft ihre jü­di­schen Kom­mi­li­to­nen. Die Uni­ver­si­tät Ham­burg stand eben­so wie die an­de­ren deut­schen Uni­ver­si­tä­ten in den 1930er- bis 1940er-​Jahren unter dem Ein­fluss der an­ti­se­mi­ti­schen Staats­dok­trin. Auch in Ham­burg konn­ten rechts­ex­tre­me Par­tei­en bei der Bür­ger­schafts­wahl 1928 Stim­men ge­win­nen. 1930 er­reich­te die NSDAP trotz einer recht ge­rin­gen Mit­glie­der­zahl spek­ta­ku­lä­re 19,2 Pro­zent. Damit wurde auch die Ham­bur­ger Bür­ger­schaft zum Schau­platz an­ti­se­mi­ti­scher Po­le­mik. Die jü­di­schen Ge­mein­den, auch die Ham­burgs und Um­ge­bung, spür­ten die zu­neh­men­de Be­dro­hung, da sich nun Fried­hofs­schän­dun­gen, Stra­ßen­ter­ror und sogar Schän­dun­gen von Syn­ago­gen häuf­ten. Im No­vem­ber 1930 bil­de­te man als Re­ak­ti­on dar­auf einen „Po­li­ti­schen Aus­schuss“, um Ab­wehr­stra­te­gien zu ent­wi­ckeln. Im Früh­jahr 1932 kün­dig­ten füh­ren­de Na­tio­nal­so­zia­lis­ten für den Fall ihrer Macht­über­nah­me ein Bün­del von ju­den­feind­li­chen Maß­nah­men an, was ei­ni­ge Ham­bur­ger Juden be­reits 1932 und ver­stärkt im Früh­jahr 1933 aus­wan­dern ließ.

Staatlicher Antisemitismus 1933–1938: Ausgrenzung und Ausplünderung


Den dy­na­mi­schen Pro­zess, in dem sich der Ra­d­au­an­ti­se­mi­tis­mus „von unten“ und die Pläne rechts­ex­tre­mer Vor­den­ker über die le­ga­le Aus­schal­tung der Juden ge­gen­sei­tig ra­di­ka­li­sier­ten, trie­ben die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten nach 1933 nun in Form staat­li­cher Po­li­tik voran. Die NSDAP be­gann so­fort nach ihrer Macht­über­nah­me mit der reichs­wei­ten Um­set­zung ihres an­ti­se­mi­ti­schen Pro­gramms. In Ham­burg wur­den die reichs­wei­ten Vor­ga­ben kon­se­quent um­ge­setzt, da­ne­ben aber auch eine ei­gen­stän­di­ge an­ti­jü­di­sche Po­li­tik be­trie­ben. Der Ham­bur­ger Gau­lei­ter Karl Kauf­mann recht­fer­tig­te be­reits Ende März in einer Rund­funk­an­spra­che den Auf­ruf zu an­ti­jü­di­schen Boy­kott­ak­tio­nen am 1.4.1933. Diese wur­den von einer an­schwel­len­den öf­fent­li­chen an­ti­se­mi­ti­schen Pro­pa­gan­da flan­kiert und mar­kier­ten den Be­ginn eines immer wei­te­re Be­rei­che jü­di­schen Le­bens be­tref­fen­den Aus­schlus­ses aus der deut­schen Ge­sell­schaft. In der Fol­ge­zeit wur­den Juden mit einer Flut von über 2.000 Ge­set­zen und Ver­ord­nun­gen mo­ra­lisch dif­fa­miert, aus dem ge­sell­schaft­li­chen Leben aus­ge­grenzt, wirt­schaft­lich aus­ge­plün­dert, aus dem Lande ge­trie­ben und phy­sisch be­droht. Auch in Ham­burg sahen sich Juden sei­tens der NSDAP und SA 1933/34 an­ti­jü­di­schen Stra­ßen­ak­tio­nen aus­ge­setzt, die im Grin­del zu re­gel­rech­ten „Ju­den­jag­den“ es­ka­lier­ten. Den­noch hielt sich Ham­burg ins­ge­samt bei ra­di­ka­len an­ti­jü­di­schen Maß­nah­men tak­tisch eher zu­rück, um seine Re­pu­ta­ti­on als welt­of­fe­ne Han­dels­stadt nicht zu ge­fähr­den, auf die sie für ihre wirt­schaft­li­che Sta­bi­li­sie­rung an­ge­wie­sen war. Mit den „Nürn­ber­ger Ge­set­zen“ von 1935 er­reich­te die Aus­gren­zung eine neue Stufe. Das „Ge­setz zum Schutz des deut­schen Blu­tes und der deut­schen Ehre“ ver­bot Juden die Ehe­schlie­ßung sowie se­xu­el­le Kon­tak­te mit „Ari­ern“. Die­ses Ge­setz öff­ne­te De­nun­zia­tio­nen wegen „Ras­sen­schan­de“ Tür und Tor, die vor allem den jü­di­schen Part­ner in höchs­te Ge­fahr brin­gen konn­ten. In Ham­burg ver­folg­te eine spe­zi­el­le Spruch­kam­mer des Land­ge­richts dies­be­züg­li­che Ge­set­zes­ver­stö­ße mit be­son­de­rer Härte.

Das Jahr 1938 er­leb­te einen neuen Ra­di­ka­li­sie­rungs­schub. Ende Ok­to­ber wur­den in der so­ge­nann­ten „Po­len­ak­ti­on“ zwi­schen 15.000 und 17.000 Juden mit pol­ni­scher Staats­bür­ger­schaft ver­haf­tet und nach Polen ab­ge­scho­ben. Damit re­agier­te das NS-​Regime auf die Ent­schei­dung Po­lens, län­ger im Aus­land le­ben­den pol­ni­sche Staats­bür­gern, vor allem Juden, die Staats­bür­ger­schaft zu ent­zie­hen. Dar­un­ter waren auch 1.200 Ham­bur­ger Juden, die an die pol­ni­sche Gren­ze ver­bracht und dort über die Gren­ze ge­trie­ben wur­den. Wenig spä­ter lös­ten die No­vem­ber­po­gro­me 1938 unter den noch in Deutsch­land ver­blie­be­nen Juden eine große Aus­wan­de­rungs­wel­le aus. Die von Go­eb­bels mit Bil­li­gung Hit­lers „ver­ord­ne­ten Po­gro­me“ wur­den im We­sent­li­chen von SA, SS und NSDAP-​Mitgliedern aus­ge­führt, auch wenn sich man­cher­orts Teile der Be­völ­ke­rung den Ak­tio­nen spon­tan an­schlos­sen. Reichs­weit wur­den nach NS-​Dokumenten dabei 91 Juden er­mor­det, doch rech­net man heute mit einer we­sent­lich hö­he­ren Zahl von Toten (zwi­schen 400 und 1.300), ca. 1.500 Syn­ago­gen und 7.500 jü­di­sche Ge­schäf­te zer­stört.


Bild vom Ab­riss der Born­platz Syn­ago­ge, 1939
Quel­le: Yad Vashem Foto Ar­chiv, 971/2.


Zudem wur­den an­nä­hernd 30.000 jü­di­sche Män­ner für ei­ni­ge Mo­na­te in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger ver­schleppt. In Ham­burg wur­den mehr als tau­send jü­di­sche Män­ner ver­haf­tet und vom Po­li­zei­ge­fäng­nis Fuhls­büt­tel ins KZ-​Sachsenhausen ver­bracht. Mit die­sen Ak­tio­nen und der von den „Juden deut­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit in ihrer Ge­samt­heit“ zu er­brin­gen­den „Sühne­leis­tung“ von einer Mil­li­ar­de Reichs­mark für die (ihnen zu­ge­füg­ten) Schä­den soll­ten diese gänz­lich aus der Wirt­schaft her­aus­ge­drängt und zur Aus­wan­de­rung ge­trie­ben wer­den. Die jü­di­sche Ge­mein­de Ham­burg, die Mitte der 1920er-​Jahre circa 20.000 Mit­glie­der hatte, ver­lor bis 1939 die Hälf­te ihrer Mit­glie­der. Die Re­ak­ti­on der Be­völ­ke­rung auf die Po­gro­me war ge­spal­ten. Es gab Mit­tä­ter und Zu­schau­er, die das Ge­sche­hen bil­lig­ten, aber es wird auch von ab­leh­nen­den Re­ak­tio­nen be­rich­tet. Die aus­län­di­sche Pres­se und Po­li­tik äu­ßer­ten sich em­pört über diese Ge­walt­or­gie. Des­halb star­te­te das Re­gime eine mas­si­ve Pro­pa­gan­da­kam­pa­gne im Rund­funk, in der man auch das Mit­tel des Ka­ba­retts nutz­te, um die Er­eig­nis­se zu recht­fer­ti­gen und ge­ra­de­zu ins Lä­cher­li­che zu zie­hen.

Kurz nach Be­ginn des Zwei­ten Welt­krie­ges setz­ten erste De­por­ta­tio­nen deut­scher Juden nach Polen und Frank­reich ein. Im Ok­to­ber 1941 be­gann dann reichs­weit die letz­te Phase der Ver­fol­gungs­po­li­tik: die sys­te­ma­ti­sche Mas­sen­de­por­ta­ti­on und Er­mor­dung der deut­schen Juden im Osten.


Por­tal des Han­no­ver­schen Bahn­hofs um 1941
Quel­le: Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Deut­schen Zoll­mu­se­ums.


Die Ge­samt­zahl der de­por­tier­ten deut­schen Juden wird auf 160.000 bis 195.000 be­zif­fert. Von Ham­burg aus ging der erste Trans­port von 1.000 Juden am 25.10.1941 nach Lodz (da­mals Litz­mann­stadt). Bis 1945 folg­ten 16 wei­te­re Trans­por­te mit ins­ge­samt 5.848 Per­so­nen. Nur we­ni­ge Juden über­leb­ten die Ver­fol­gung im Reichs­ge­biet. Eine we­ni­ge Tage vor Kriegs­en­de an die Ge­sta­po vom Ver­trau­ens­mann der Ham­bur­ger jü­di­schen Rest­ge­mein­de ge­lie­fer­te sta­tis­ti­sche Auf­stel­lung nennt die Zahl von 647 über­le­ben­den Juden, die fast alle in einer Misch­ehe leb­ten. Wei­te­re 50 bis 80 Per­so­nen hat­ten in Ver­ste­cken oder unter fal­schen Iden­ti­tä­ten über­lebt. Die nach Kri­te­ri­en der NS-​Rassenpolitik ge­glie­der­te Sta­tis­tik zeigt, wie sehr die Über­le­bens­chan­cen vom je­weils zu­er­kann­ten Sta­tus ab­hin­gen. Die Ge­samt­zahl der jü­di­schen Opfer aus Ham­burg wird auf etwa 10.000 ge­schätzt. Na­ment­lich konn­ten bis­her 8.877 er­mit­telt wer­den.

Antisemitismus in der Nachkriegszeit


Nach Kriegs­en­de be­stan­den, wie die frü­hen Be­völ­ke­rungs­be­fra­gun­gen in Deutsch­land zei­gen, nun „pri­va­ti­sier­te“ an­ti­se­mi­ti­sche Ein­stel­lun­gen in wei­ten Tei­len der Be­völ­ke­rung fort, die sich in Fried­hof­schän­dun­gen, Schmie­re­rei­en und be­lei­di­gen­den Äu­ße­run­gen zeig­ten. Der „An­ti­se­mi­tis­mus nach Ausch­witz“ trug und trägt ei­ner­seits wei­ter­hin Züge des „klas­si­schen“ An­ti­se­mi­tis­mus. An­de­rer­seits hat er aber auch einen For­men­wan­del er­lebt, da die An­ti­se­mi­ten nun auf den Völ­ker­mord re­agie­ren muss­ten, sei es durch des­sen Leug­nung, durch eine Schuld­ab­wehr oder durch eine Schuld­pro­jek­ti­on auf die Juden oder den Staat Is­ra­el. Dies war häu­fig mit äl­te­ren Ver­schwö­rungs­theo­rien im An­schluss an die „Pro­to­kol­le der Wei­sen von Zion“ ver­bun­den. Zwar war das öf­fent­li­che Äu­ßern an­ti­se­mi­ti­scher Über­zeu­gun­gen in der Bun­des­re­pu­blik ge­äch­tet, doch führ­ten sol­che Äu­ße­run­gen in den frü­hen Nach­kriegs­jah­ren sowie in den spä­ten 1950er-​Jahren wie­der­holt zu an­ti­se­mi­ti­schen Skan­da­len, weil die Jus­tiz nur ge­rin­ge Be­reit­schaft zeig­te, sol­che Be­lei­di­gun­gen zu ahn­den und das Pu­bli­kum in den Ge­richts­ver­hand­lun­gen seine an­ti­se­mi­ti­schen Ein­stel­lun­gen auch offen zeig­te, etwa in den Ova­tio­nen für den in Ham­burg wegen sei­nes NS-​Hetzfilms „Jud Süß“ vor Ge­richt ge­stell­ten, aber frei­ge­spro­che­nen Re­gis­seurs Veit Har­lan.


Veit Har­lan nach Pro­zess in Ham­burg, 1949
Quel­le: Bun­des­ar­chiv, Bild 183-R76220, Wi­ki­me­dia Com­mons, CC-​BY-SA 3.0.


Die an­ti­se­mi­ti­schen Skan­da­le der spä­ten 1950er-​Jahre und die Schmier­wel­le von 1959/60 lös­ten dann aber ein Um­den­ken in Po­li­tik, Bil­dung, Jus­tiz und Kul­tur aus, das in den 1960er-​Jahren durch den Eich­mann- und den Aus­sch­witz-​Prozess wei­ter ver­stärkt wurde. Be­glei­tet war dies von einem Rück­gang an­ti­se­mi­ti­scher Ein­stel­lun­gen in der Be­völ­ke­rung.

Neue Formen des Antisemitismus


In den Nach­kriegs­jah­ren spiel­te ein is­ra­el­be­zo­ge­ner An­ti­se­mi­tis­mus im Wes­ten Deutsch­lands keine grö­ße­re Rolle. Erst auf den Juni-​Krieg von 1967 re­agier­te ein Teil der po­li­ti­schen Lin­ken mit einem ra­di­ka­len An­ti­zio­nis­mus, der nicht immer frei von an­ti­se­mi­ti­schen Un­ter­tö­nen war. So ver­hin­der­ten im Juni 1969 ara­bi­sche und deut­sche Stu­den­ten eine Vor­trags­ver­an­stal­tung des is­rae­li­schen Bot­schaf­ters Ben Na­than an der Ham­bur­ger Uni­ver­si­tät mit „El-​Fatah“ und „Ben Natan raus“-​Rufen, ob­wohl die Mehr­heit der Stu­den­ten mit „El-​Fatah raus“-​Rufen da­ge­gen­hielt. In den 1980er-​Jahren war das Ver­hält­nis zu den Juden in der Bun­des­re­pu­blik Teil der Aus­ein­an­der­set­zung um die Er­in­ne­rung an die NS-​Vergangenheit, die sich in einer Reihe von Af­fä­ren und Kon­flik­ten nie­der­schlug. Nach der deut­schen Ei­ni­gung kam es im Zuge der Asyl­de­bat­te ab 1991 zu einer neuen Welle frem­den­feind­li­cher Ge­walt, neo­na­zis­ti­scher Auf­mär­sche und an­ti­se­mi­ti­scher Straf­ta­ten. Die Ver­brei­tung an­ti­se­mi­ti­scher Ein­stel­lun­gen in der Be­völ­ke­rung än­der­te sich da­ge­gen kaum. An­ti­se­mi­tis­mus blieb aber seit den 1990er-​Jahren nicht auf den rechts­ex­tre­men Rand be­schränkt. Seit Be­ginn des neuen Jahr­tau­sends bil­det neben dem An­ti­se­mi­tis­mus der Schuld­ab­wehr zu­neh­mend die is­rae­li­sche Po­li­tik ge­gen­über den Pa­läs­ti­nen­sern ein Motiv für ju­den­feind­li­che Res­sen­ti­ments. Für diese eu­ro­pa­wei­te Ent­wick­lung ist der Be­griff des „neuen An­ti­se­mi­tis­mus“ ge­prägt wor­den, der in Is­ra­el ein neues Ziel ge­fun­den habe und zudem außer von der ex­tre­men Rech­ten nun auch von ra­di­ka­len Lin­ken und mus­li­mi­schen Zu­wan­de­rern ver­tre­ten werde.

Auswahlbibliografie


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Zum Autor

Werner Bergmann (Thema: Judenfeinschaft und Verfolgung), Prof. Dr., ist Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Soziologie und Geschichte des Antisemitismus und angrenzende Gebiete wie Rassismus und Rechtsextremismus.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Werner Bergmann, Judenfeindschaft und Verfolgung, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-218.de.v1> [02.04.2025].

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