Die Stolpersteine in der Brahmsallee 13: Von den Geschichten hinter den Namen und den Hürden des Erinnerns

Beate Meyer

Quellenbeschreibung

Das Foto zeigt sechs Stolpersteine, die der Künstler Gunter Demnig am 22.7.2007 in die Gehwegplatten vor dem Wohnhaus Brahmsallee 13 eingelassen hat. Die 10 x 10 cm großen Betonsteine mit einer Oberfläche aus Messing erinnern an drei jüdische Ehepaare, die dort gelebt haben: Gretchen und Jona Fels von 1920 bis 1935, Bruno und Irma Schragenheim von 1927 bis 1936 und Moritz und Erna Bertha Bacharach von 1937 bis Frühjahr 1939. Demnig intendiert mit den Stolpersteinen, dass über sie die Namen der NS-Opfer im Gedächtnis der heutigen Bevölkerung verankert werden. Er hofft, sie lösen Diskussionen jedweder Art aus und befördern damit immer wieder eine Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht. Die oberste Zeile „Hier wohnte“ verweist darauf, dass diese Stolpersteine am (letzten selbst gewählten) Wohnort der Genannten und nicht an ihrem Wirkungsort (dann würde die erste Zeile lauten: „Hier wirkte“) verlegt wurden. Die Inschrift enthält weiter den Namen, bei Frauen den Geburtsnamen, das Geburtsjahr, das Schicksal (deportiert 1941), den Todesort und – wenn bekannt – das Todesdatum. Auf einigen Stolpersteinen sind besondere Umstände vermerkt wie auf denen von Moritz und Erna Bacharach. Auf den neueren Stolpersteinen benutzt der Künstler fast durchgehend den auch hier verwendeten Begriff „ermordet“, weil die Nationalsozialisten den Tod dieser Menschen beabsichtigt haben, ganz gleich, ob sie wie Erna Bacharach oder Gretchen Fels in den Gaskammern von Auschwitz getötet oder andere wie Jona Fels im Getto an Krankheit oder Hunger umgekommen sind. Die Patenschaft für die sechs Stolpersteine (im Jahr 2016 pro Stein 120 Euro) haben die Anwohner übernommen, die auch dafür sorgen, dass die Messingoberfläche weiterhin glänzt.
  • Beate Meyer

Die Stolperstein-Aktion


Der Künstler Gunter Demnig begann in den 1990er-Jahren seine Kunst (Art of Remembrance/Street Art) im öffentlichen Raum zu entwickeln, die schließlich in der Stolperstein-Aktion ihre heutige Form fand. Mehr als 60.000 solcher Steine (Stand August 2016) verlegte er in Deutschland und vielen anderen Ländern. Sie sollen individualisiertes Gedenken an das NS-Unrecht im alltäglichen Raum ermöglichen. Demnig definiert die sich über ganz Europa erstreckende Kunstaktion als „soziale Skulptur“ beziehungsweise als „größtes dezentrales Mahnmal der Welt“. Dabei setzt er von vornherein auf die Partizipation der örtlichen Bevölkerung. Wie bei den sechs Stolpersteinen in der Brahmsallee 13 erforschen dann ehrenamtliche Rechercheure die Biografien, ganz gleich, ob es sich – wie hier – um deportierte Jüdinnen und Juden, im KZ umgekommene Homosexuelle, Zeugen Jehovas, hingerichtete Widerstandskämpfer, Deserteure oder der Sabotage beschuldigte Zwangsarbeiter handelt, um nur einige der Verfolgtengruppen zu nennen, und ungeachtet dessen, ob diese Person in einem Lager umgekommen ist, Selbstmord begangen hat oder an den Folgen der Verfolgung gestorben ist. Stehen die Daten für den Stein fest und ist die Finanzierung über eine Patenschaft gesichert, erwirken die örtlichen Organisatoren bei den zuständigen Behörden die Erlaubnis, den Stolperstein auf öffentlichem Grund zu verlegen. Der Stolperstein kann am letzten frei gewählten Wohnort oder an der Stätte des Wirkens verlegt werden. Dies hängt auch von den Absichten der Paten ab, die entweder im Wohngebiet oder aber beispielsweise vor einer Schule an einen Lehrer, vor einem Theater an einen Schauspieler oder vor dem Rathaus an einen Politiker erinnern wollen. Manchen Personen sind so mehrere Steine gewidmet wie Erna Bertha Bacharach geborene Strauss, für die 2010 auch ein Stolperstein in ihrer Geburtsstadt Michelstadt verlegt wurde. Ist der Stolperstein einmal gesetzt, geht er ins Eigentum der jeweiligen Kommune über, die damit dafür zuständig ist, Beschädigungen oder die Entfernung strafrechtlich verfolgen zu lassen.

Stolpersteine in Hamburg


Der Kunstsammler Peter Hess brachte die Stolperstein-Aktion im Jahr 2002 nach Hamburg. Nach anfänglichem Widerstand insbesondere der zuständigen Ämter fand er politische Zustimmung und breite öffentliche Unterstützung. 2016 wurde der 5.000ste Stolperstein in der Hansestadt verlegt. Mehr als 90 Prozent der Hamburger Stolpersteine – wie die sechs abgebildeten – erinnern an Juden, gefolgt von solchen, die für Homosexuelle, „Euthanasie-Opfer“ und politisch Verfolgte gesetzt worden sind. Die restlichen verteilen sich auf andere Gruppen. 2006 riefen Rita Bake (Landeszentrale für politische Bildung) und Beate Meyer (Institut für die Geschichte der deutschen Juden) das Projekt „Stolpersteine in Hamburg – biographische Spurensuche“ ins Leben. Die Beteiligten, zusammengerechnet bisher weit über 300 Personen, erforschen unter wissenschaftlicher Anleitung die Biografien derer, für die in ihrem Stadtteil Stolpersteine verlegt worden sind. Zurzeit (2016) arbeiten drei Gruppen parallel, zwei davon bezogen auf das Grindelgebiet, dem früheren Hauptwohngebiet der Hamburger Juden. In einer dieser Arbeitsgruppen entstanden die biografischen Texte zu den Ehepaaren Fels, Schragenheim und Bacharach, die im Band „Stolpersteine in Hamburg – Grindel I“ 2016 veröffentlicht wurden. Mittlerweile haben die Projektleiterinnen und Beteiligten insgesamt 17 stadtteilbezogene Biografie-Bände veröffentlicht, sechs weitere sind in Arbeit. Die circa 3.000 Lebensgeschichten, die bisher in diesem Projekt erforscht und in den Bänden veröffentlicht worden sind, können auch unter www.stolpersteine-hamburg.de nachgelesen werden.

Die abgebildeten Stolpersteine


Die sechs Stolpersteine enthalten nur wenige Eckdaten des Lebens und Sterbens der Genannten. Ein erster Blick lässt schon vermuten, dass es sich um Ehepaare handelt, und die Deportationsziele Theresienstadt und Minsk sowie die Nennung des Vernichtungslagers Auschwitz lassen auf die Verfolgung als Jüdinnen beziehungsweise Juden schließen, ohne diese zu benennen. Die biografische Spurensuche fördert Weiteres zutage: Gretchen Fels geborene Hildesheimer stammte aus Peine. Sie hatte 1905 den Hamburger Kaufmann John/Jona Fels geheiratet. Als dieser aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte, bezog das Ehepaar mit Tochter Edith die Wohnung in der Brahmsallee 13, wo die Familie 15 Jahre lebte. John Fels arbeitete als Geschäftsführer, Gretchen als Prokuristin der Fa. Gerson, die John Fels ab 1934 dann als Metall- und Chemikalienmakler fortführte. John Fels vermied 1938 den Zwangsnamen „Israel“, indem er seinen Vornamen in den erlaubten „jüdischen“ Jona umwandeln ließ. Seine geräumige Wohnung musste das Ehepaar aus finanziellen Gründen verlassen. Eine versuchte Emigration zur Tochter, die inzwischen nach Palästina ausgewandert war, scheiterte. Nach mehreren Umzügen wurde das Ehepaar aus einem „Judenhaus“ in der Dillstraße am 15.7.1942 ins „Altersghetto“ Theresienstadt deportiert, wo Jona nach einem Vierteljahr verstarb. Gretchen Fels wurde nach Auschwitz weiterdeportiert und dort im Gas ermordet. Der gebürtige Hamburger Bruno Schragenheim und seine Ehefrau Irma geb. Löwenberg wohnten neun Jahre in der Brahmsallee 13. Die Ehe blieb kinderlos und Irma war offensichtlich nicht berufstätig. Bruno Schragenheim, der seine Dienste als selbständiger Bücherrevisor anbot, litt zwar unter den antijüdischen Maßnahmen, konnte seine Tätigkeit jedoch bis 1938 ausüben. Danach arbeitete er bis zur Deportation am 8.11.1941 als Buchhalter bei der jüdischen Gemeinde Hamburgs. Im Getto Minsk verliert sich die Spur der beiden. Auf dem Stolperstein befindet sich deshalb nur der Hinweis „ermordet“, kein Todesdatum. Da kaum Unterlagen aus dem Getto Minsk überliefert sind, ist dieses bei fast allen nach Minsk Deportierten Hamburgerinnen und Hamburgern nicht bekannt. Das Ehepaar Bacharach lebte nur knapp vier Jahre in Hamburg. Moritz Bacharach stammte aus Seligenstadt. Er heiratete die in Michelstadt gebürtige Erna Bertha geborene Strauss. Das Ehepaar lebte zunächst in Hanau, wo die Söhne Albrecht und Walter zur Welt kamen, dann in Salzwedel. Nach Hamburg ging die Familie erst in der NS-Zeit, als Moritz seinem Beruf in ländlichen Gebieten nicht mehr nachgehen konnte. Mutter  Erna Bertha Bacharach und Söhne  Albrecht und Walter Bacharach emigrierten im Juli 1938 in die Niederlande. Der Vater  Moritz Bacharach folgte 1939. Doch die deutschen Truppen holten die deutsch-jüdischen Emigranten ein. Aus Hilversum wurden sie ins Durchgangslager Westerbork gebracht, fast zwei Jahre später am 25.2.1944 ins Getto Theresienstadt und von dort am 1.10.1944 nach Auschwitz deportiert, wo Erna Bertha Bacharach ermordet wurde. Der Stolperstein nennt kein Todesdatum, weil für die Ankömmlinge ihres Transportes keines registriert wurde. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie am Ankunftstag oder am Tag darauf getötet wurden. Moritz, Albrecht und Walter wurden in Auschwitz zur Zwangsarbeit bestimmt und nach Taucha/Sachsen gebracht. Dort schweißten sie für die Rüstungsproduktion der HASAG. Im April 1945 mussten die Häftlinge einen Todesmarsch antreten. Moritz Bacharach wurde dabei vor den Augen seiner Söhne erschossen, die beide überlebten. Als die Anwohner der Brahmsallee Walter Zwi Bacharach (gestorben 2014), der inzwischen als Professor für Moderne Geschichte an der israelischen Universität in Bar Ilan lehrte, 2007 über ihre Absicht informierten, für seine Eltern  Moritz und Erna Bertha Bacharach Stolpersteine zu setzen, reagierte er verhalten und stellte klar: „Das ist eure Sache“, um darauf hinzuweisen, dass diese Form des Gedenkens von den Nachfahren der Täter initiiert wurde. Später jedoch trat der Aspekt hinter der Tatsache zurück, dass an die Namen seiner Eltern erinnert wird. 2010 nahmen er und seine Ehefrau an der Verlegung des Stolpersteines für seine Mutter in Michelstadt teil und sie suchten mehrfach den Stein in der Brahmsallee auf.

(Hamburger) Konflikte um die Stolperstein-Aktion


Während die meisten Städte und Gemeinden Demnigs Aktion unterstützen und der Künstler Ehrungen und Preise erhält, lehnen einige, allen voran München, die Verlegung ab, weil diese Form der Erinnerung nicht den Vorstellungen der Stadtoberen und der Jüdischen Gemeinde von einem würdigen Gedenken entspricht. Durch die Platzierung auf den Gehwegen sehen sie das Andenken der Ermordeten im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten und beschmutzt, während der Künstler  Gunter Demnig davon ausgeht, die Passanten würden sich vor den Opfern verneigen, wenn sie die Inschriften der Stolpersteine läsen. Aus demselben Grund lehnt die Rom und Cinti Union in Hamburg die Erinnerung an ermordete „Zigeuner“ mittels Stolpersteinen ab. Bereits verlegte Steine mussten 2009 entfernt werden. Andere Kritiker haben Vorbehalte gegen die Stolperstein-Aktion, weil das Prinzip des Gedenkens „von unten“, nämlich dass Paten die einzelnen Steine initiieren und finanzieren, nicht garantiert, dass aller Ermordeten gedacht wird. Sie würden lieber „von oben“ eine Form festlegen, in der alle Namen an einem Erinnerungsort versammelt sind. In München sind derzeit Stehlen mit eingelassenen Namen im Gespräch. In Städten wie Kassel oder Göttingen, wurde erst nach jahrelangen kontroversen Diskussionen 2013 beziehungsweise 2015 die Zustimmung zur Verlegung der Stolpersteine erteilt. In Oldenburg werden zwar Stolpersteine für politisch Verfolgte oder „Euthanasie-Opfer“ verlegt, während die Stadt mit Rücksicht auf die ablehnende Haltung der Jüdischen Gemeinde Stolpersteine für Juden nicht genehmigt und stattdessen an einem zentralen Ort eine Gedenkwand mit den Namen aller ermordeten Oldenburger Jüdinnen und Juden errichtet hat. Das individualisierte Gedenken evoziert immer wieder Konflikte mit Angehörigen. Dies geschieht insbesondere, wenn die Ermordeten Gruppen angehörten, deren Lebensweise oder Verhalten von gesellschaftlichen Normen abwich und für die sich Verwandte nach wie vor schämen oder die ihnen peinlich sind (beispielsweise „Euthanasie“-Opfer, Deserteure, Homosexuelle). Manchmal bestehen auch aktuelle Ängste, beispielsweise dass die jüdische Abstammung heutiger Namensträger durch den Stolperstein offenkundig wird. Auf Vorbehalte der Angehörigen, die im Vorwege bekannt sind, nehmen die örtlichen Organisatoren generell Rücksicht. Entsteht der Kontakt zu Verwandten erst nach der Verlegung der Steine oder sind die Nachfahren in dieser Frage uneins, bemühen sich die Beteiligten, einvernehmliche Lösungen zu suchen. 2014 gaben Inschriften des Künstlers Gunter Demnig, die die Verfolgungsgründe für ein NS-Opfer mit Begrifflichkeiten der NS-Justiz benannten, („Gewohnheitsverbrecherin“, „Rassenschande“), Anlass zu medialer Kritik, der sich einige Historiker anschlossen. Sie gehen davon aus, dass die diskriminierenden Termini die Opfer ein zweites Mal entwürdigen und zweifeln daran, dass die heutige Öffentlichkeit versteht, dass damit auf justizielles Unrecht aufmerksam gemacht werden soll. Da hier ein Konflikt zwischen der Freiheit des Künstlers  Gunter Demnig und der Political Correctness beziehungsweise pädagogischer Absicht besteht, der jedoch nicht gelöst werden kann, wird es um diese und ähnliche Fragen künftig sicher weiter Diskussionen geben – die hoffentlich ihrerseits zu einem vertieften Wissen über die NS-Zeit führen werden.

Auswahlbibliografie


Peter Hess (Interview), „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“. Die Aktion Stolpersteine, in: Beate Meyer (Hrsg.), Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden. Geschichte. Zeugnis. Erinnerung, Hamburg 2006, S. 167–171.
Beate Meyer, Stolpersteine in Hamburg – Individualisiertes Erinnern in alltäglichen Lebensräumen, in: Miriam Gillis-Carlebach/Barbara Vogel (Hrsg.), „Mein Täubchen aus dem Felsenspalt. Im Hohlhort des Berghanges, lass dein Antlitz mich schauen, deine Stimme mich ertönen…“ (gemäß Das Hohelied, 2,14). Die Achte Joseph-Carlebach-Konferenz. Becoming Visible. Jüdisches Leben in Deutschland seit 1990, München u. a. 2011, S. 70–89.

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Zur Autorin

Beate Meyer (Thema: Erinnern und Gedenken), Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ). Ihre Forschungsinteressen sind: deutsch-jüdische Geschichte, Nationalsozialismus, Oral History, Geschlechtergeschichte und Erinnerungskultur.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Beate Meyer, Die Stolpersteine in der Brahmsallee 13: Von den Geschichten hinter den Namen und den Hürden des Erinnerns, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-171.de.v1> [19.03.2024].

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