Verfolgung und Ausgrenzung sogenannter „Mischlinge“. Der Fall Friedrich Wilhelm Lübbert

Beate-Christine Fiedler

Quellenbeschreibung

Das für Friedrich Wilhelm Lübberts (Über-)Leben wohl bedeutsamste Dokument ist auf den 17.10.1944 datiert und vom „General der Flieger und Chef des Ministeramts Reichsmarschall“ Karl Bodenschatz unterschrieben. Dieser bestätigt darin, dass Friedrich Wilhelm Lübbert, Kaufmann jüdischer Abstammung, von weiteren staatspolizeilichen Maßnahmen freigestellt sei, nachdem er gemäß Vereinbarung zwischen dem Reichsmarschall Hermann Göring und dem Reichsführer SS Heinrich Himmler seine Sterilisation hatte durchführen lassen. Wie viele andere deutsche Juden, die seit Generationen getauft und assimiliert waren, wurde Friedrich Wilhelm Lübbert in der NS-Zeit verfolgt. Gemäß den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 galt Friedrich Wilhelm Lübbert als „Mischling ersten Grades“. Anfang der 1940er-Jahre wurde über deren massenhafte Zwangssterilisation diskutiert, um die Fortpflanzung zu verhindern. Es kam zwar zu keiner Entscheidung in dieser Frage, doch das Dokument belegt, dass der Ausgrenzungsprozess und die Gefährdung der „Mischlinge“ mehr und mehr zunahmen und Sterilisationen durchgeführt wurden. Für die Ausfertigung der einseitigen maschinenschriftlichen Bestätigung wurde ein Formular der Behörde „Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches Chef des Ministeramtes“ mit Sitz in Berlin, Prinz-Albrecht-Str. 5, verwendet. Das Dokument gehört zum „Nachlass Lübbert“, der im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr (MHM) in Dresden liegt. Das Original wird in der Dauerausstellung präsentiert.
  • Beate-Christine Fiedler

Friedrich Wilhelm Lübbert (1899–1966), genannt Fritz, Sohn von Hans Julius Oppenheim-Lübbert (1870–1951) und seiner Frau Eleonore Valentine del Banco (1859–1934), entstammte einer einflussreichen und wohlhabenden jüdischen Händler- und Kaufmannsfamilie, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Hamburg lebte. Die Familie Oppenheim wurde ab 1800 von der jüdischen Aufklärungsbewegung beeinflusst. Seit 1820 ließen sich alle Familienmitglieder taufen, und nach 1890 wurde der Familienname in zwei Schritten über Oppenheim-Lübbert zu Lübbert geändert – ein wesentlicher Schritt im Assimilationsprozess. Der Name Oppenheim und die jüdische Vergangenheit wurden in der Familie nicht mehr erwähnt.

Friedrich Wilhelm Lübbert im Ersten Weltkrieg


Geprägt von seinem Stief-Großvater, dem äußerst patriotisch und militärisch gesinnten Generalmajor Eduard Lübbert (1854–1933), entschied sich der 16-jährige Schüler Fritz Lübbert im Spätsommer 1914, in den Krieg zu ziehen und Offizier zu werden. Seine militärische Laufbahn begann im Mai 1915 als Fahnenjunker in Wandsbek, ein Jahr später kämpfte er als Fähnrich an der Ostfront. Ende Juli 1917 entschloss sich der 19-jährige Fritz Lübbert, zur Fliegertruppe zu wechseln, wenige Monate zuvor hatte sein Bruder Eddy als Jagdflieger an der Westfront sein Leben verloren. Ende 1917 begann Fritz Lübberts zwar kurze, aber „(über)lebenswichtige“ Zeit bei der Jagdstaffel 11 unter Führung des bedeutenden Jagdfliegers und Geschwaderkommandanten Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofen. Dessen Adjutant war der damalige Hauptmann Karl Bodenschatz, Unterzeichner des hier zu interpretierenden Dokuments. Bereits im Februar 1918 wurde Lübbert bei einem Jagdflug schwer verwundet, seine aktive Kriegsteilnahme war damit beendet. Der schon zu Lebzeiten legendäre Kampfflieger von Richthofen kümmerte sich persönlich um den Verwundeten und schenkte ihm sein eigenes E.K. I. Nur wenige Wochen später fiel Richthofen im Luftkampf. Letzter Kommandant des Richthofen-Geschwaders wurde Hermann Göring.

Kontaktpflege zwischen alten Kameraden: Lübbert, Bodenschatz und Göring


Nach Kriegsende gründete Fritz Lübbert im damals noch hamburgischen Cuxhaven eine eigene Firma „Friedrich Wilhelm Lübbert“ und war äußerst erfolgreich in der Fischwirtschaft und Fischindustrie tätig. Obwohl er seine militärische Laufbahn nicht weiterverfolgte, blieb Lübbert den Jagdfliegern und der Familie von Richthofen stets verbunden und wurde Mitglied im „Verein ehem. Jagdflieger des Jagdgeschwaders Frhr. v. Richthofen Nr. 1“. Der Verein verfolgte das Ziel, die Kameradschaft und das Zusammengehörigkeitsgefühl unter allen Richthofen-Fliegern weiterzupflegen. Der erste Schriftführer war der Offizier Karl Bodenschatz.

Nach 1933 kreuzten sich die Wege der ehemaligen Geschwaderkameraden Lübbert, Göring und Bodenschatz erneut. Während sich Fritz Lübbert in der Kleinstadt Cuxhaven ersten Anfeindungen wegen seiner jüdischen Herkunft ausgesetzt sah, die ihn veranlassten, in die Anonymität der Großstadt Hamburg zu ziehen und von dort aus seinen Geschäften nachzugehen, machten Göring und Bodenschatz Karriere im nationalsozialistischen Deutschland. Karl Bodenschatz, General der Flieger und Chef des Ministeramtes beim Reichsmarschall Hermann Göring und damit einer von dessen engsten Mitarbeitern, und Fritz Lübbert hatten nachweislich seit 1933 regelmäßig Kontakt, die Briefe und Besprechungen berührten sowohl berufliche als auch private Fragen, ganz offensichtlich unterstützte Bodenschatz seinen alten Geschwaderkameraden in vielerlei Hinsicht.

Nach dem Reichsbürgergesetz Gesetz, welches am 15.9.1935 von den Nationalsozialisten verabschiedet wurde und welches den Juden sämtliche politischen Rechte nahm. von 1935 („Nürnberger Gesetze“) war Fritz Lübbert „Halbjude“ und dementsprechend in seiner Existenz bedroht. Er erhielt trotz allem weiterhin Einladungen zu offiziellen Veranstaltungen, unter anderem zum Staatsbegräbnis von Generaloberst Ernst Udet im November 1941. Ein Foto vom Erinnerungstreffen des Jagdgeschwaders in Berlin 1936 zeigt Bodenschatz, Göring und Lübbert lächelnd nebeneinanderstehend. Im März 1941 widmete Bodenschatz „Meinem lieben Geschwaderkameraden Friedrich Wilhelm Lübbert in treuer Verbundenheit“ ein Portraitfoto, das im Nachlass Lübbert überliefert ist.

1944 spitzte sich die Lage weiter zu, immer wieder ersuchte Fritz Lübbert Karl Bodenschatz und dessen Adjutanten um Hilfe. Im Februar wurde Lübbert, offenbar auf Grund einer Anzeige wegen „Rassenschande“, von der Gestapo in Hamburg verhaftet und in das Gefängnis Fuhlsbüttel eingeliefert. Eine Bescheinigung von Bodenschatz, dass Lübbert bis zur restlosen Klärung seiner „deutschblütigen“ Abstammung unter dem Schutz des Reichsmarschalls stehe, sorgte nach wenigen Tagen in Haft für Lübberts Entlassung. Diese Ausnahmegenehmigung von höchster Instanz hatte er seiner Jagdflieger-Vergangenheit zu verdanken.

Die Zwangssterilisierung als Lebensrettung


Am 6.7.1944 musste sich Fritz Lübbert auf eigene Kosten sterilisieren lassen. Die Zwangssterilisation war ein Kompromiss zur Verhinderung weiterer Verfolgungsmaßnahmen, der nur durch das Eingreifen von Bodenschatz erzielt werden konnte und in einer „Vereinbarung“ zwischen Hermann Göring und dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, also auf höchster Ebene, festgelegt wurde. Am 18.6.1944 teilte Ernst Kaltenbrunner, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Bodenschatz mit, dass die Geheime Staatspolizei angewiesen sei, „gegen Lübbert für den Fall seines Wohlverhaltens keine weiteren Maßnahmen persönlicher oder geschäftlicher Art zu treffen.“ Trotz der wenige Wochen später vollzogenen Sterilisierung und des damit bewiesenen „Wohlverhaltens“ drohten jedoch weitere Verfolgungsmaßnahmen, und Lübbert sah sich im August 1944 wiederum veranlasst, Bodenschatz um Hilfe zu bitten, damit in seiner „Angelegenheit etwas Abschließendes geschieht.“ Bodenschatz half erneut und verfasste das hier präsentierte Schreiben, in dem Fritz Lübbert schriftlich bestätigt wurde, dass nach der vollzogenen und ärztlich bescheinigten Sterilisierung die Angelegenheit als erledigt zu betrachten und Lübbert „von weiteren staatspolizeilichen Maßnahmen freizustellen“ sei. Die größte Gefahr, vor allem eine drohende Deportation, war mit diesem Dokument gebannt.

Lübbert und Bodenschatz nach 1945


Karl Bodenschatz, der als Zeuge beim Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg aussagte und Göring entlastete, befand sich von 1945 bis 1947 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Seit Mai 1946 standen Bodenschatz und Lübbert wieder in engem Briefkontakt: jetzt mit vertauschten Rollen. Lübbert half Bodenschatz und seiner Frau Maria, wo er konnte, im Wissen, „dass ich meine Freiheit und wahrscheinlich auch mein Leben Deiner steten Kameradschaft und Hilfsbereitschaft zu verdanken habe“ (Brief vom 1.6.1946).

Fritz Lübbert unterstützte seinen ehemaligen Fliegerkameraden mit Lebensmitteln und Lesestoff, aber auch mit eidesstattlichen Erklärungen im lange währenden, durch mehrere Instanzen gehenden Entnazifizierungsverfahren. Nach etlichen Jahren gelang es Karl Bodenschatz, seine Pensionsansprüche als Offizier durchzusetzen. Fritz Lübbert wurde Wiedergutmachung als NS-Opfer zuerkannt. Beide trafen sich weiterhin bei den regelmäßigen Treffen des ehemaligen Richthofen-Geschwaders.

Fazit


Das Dokument steht über die persönliche Bedeutung hinaus exemplarisch für die deutsch-jüdische Geschichte in der NS-Zeit. Es zeigt, wie sehr der „Halbjude“ Friedrich Wilhelm Lübbert der Willkür der Nationalsozialisten ausgeliefert war. Die Behandlung der sogenannten „Mischlinge“, zu denen die Mitglieder der Familie Lübbert gehörten, war umstritten, immer wieder hatte das NS-Regime deren Massensterilisation und Aussiedlung diskutiert, die Frage blieb letztlich ungelöst. Der Willkür waren somit keine Grenzen gesetzt, Entscheidungen wurden von Fall zu Fall getroffen. Für die zahlreichen Betroffenen bedeutete dies ein Leben in Ungewissheit und ständiger Angst vor Vertreibung und Ermordung. Friedrich Wilhelm Lübbert half letztlich nur die „Treue und Kameradschaft“ seiner ehemaligen Fliegerkameraden.

Auswahlbibliografie


Beate-Christine Fiedler, Oppenheim-Lübbert. Eine deutsche Familiengeschichte, hrsg. v. Eddy Lübbert, Langen 2005 (Privatdruck).
Thorsten Logge, Artikel „Lübbert, Hans Julius“, in: Franklin Kopitzsch/Dirk Brietzke (Hrsg.), Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 6, Göttingen 2012, S. 194–197.
Thorsten Logge, Artikel „Oppenheim, Friedrich Wilhelm (Samuel)“, in: Franklin Kopitzsch/Dirk Brietzke (Hrsg.), Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 6, Göttingen 2012, S. 236–238.

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Zur Autorin

Beate-Christine Fiedler, Dr. phil., *1958, ist freiberufliche Historikerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Niedersächsischen Landesarchiv, Standort Stade. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Frühen Neuzeit; Landes- und Regionalgeschichte Niedersachsens, insbesondere Geschichte des Elbe-Weser-Raums und der Schwedenzeit in den Herzogtümern Bremen und Verden.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Beate-Christine Fiedler, Verfolgung und Ausgrenzung sogenannter „Mischlinge“. Der Fall Friedrich Wilhelm Lübbert, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-90.de.v1> [20.04.2024].

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