Demographie und soziale Strukturen

Miriam Rürup
  • Miriam Rürup

Zusammenfassung


Die neue­re Ge­schich­te der jü­di­schen Min­der­heit in Deutsch­land zeich­ne­te sich durch ei­ni­ge Be­son­der­hei­ten in ihrer so­zia­len Struk­tur aus, die sich pau­scha­li­sie­rend etwa wie folgt zu­sam­men­fas­sen las­sen kann: Der An­teil der deut­schen Jü­din­nen und Juden an der Ge­samt­be­völ­ke­rung mach­te nur in ei­ni­gen we­ni­gen Orten, wie zeit­wei­lig in Ham­burg, mehr als 1 Pro­zent aus. Von der frü­hen Neu­zeit bis zur na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­er­grei­fung waren Jü­din­nen und Juden vor allem im Süd­wes­ten und Osten des Deut­schen Rei­ches be­hei­ma­tet und leb­ten zudem spä­tes­tens seit dem 19. Jahr­hun­dert kon­zen­triert in ei­ni­gen Bal­lungs­räu­men wie Ber­lin und Ham­burg. Sie sta­chen durch einen be­son­ders hohen Grad an Ver­städ­te­rung und einen be­acht­li­chen so­zia­len Auf­stieg, meist ver­bun­den mit einem hö­he­ren Aus­bil­dungs­grad, aus der Ge­samt­ge­sell­schaft her­vor. Zu­gleich wie­sen sie aber eine spe­zi­fi­sche Be­rufs­struk­tur sowie eine Ten­denz zur Über­al­te­rung, ver­bun­den mit einem merk­li­chen Ge­bur­ten­rück­gang, auf. Dabei be­stan­den mas­si­ve re­gio­na­le Un­ter­schie­de, ge­prägt von den recht­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen für An­sied­lung, Fa­mi­li­en­grün­dung, Ver­er­bung von Rech­ten etc. Ham­burg und Al­to­na zähl­ten bei­spiels­wei­se be­reits im 17. und 18. Jahr­hun­dert zu den Zen­tren der deut­schen jü­di­schen Min­der­heit. Die Ham­bur­ger asch­ke­na­si­sche jü­di­sche Ge­mein­de ent­wi­ckel­te sich nach meh­re­ren ge­schei­ter­ten Ver­su­chen ab 1650 von Al­to­na aus.

Ein merk­li­cher Be­völ­ke­rungs­zu­wachs im deutsch­spra­chi­gen Raum ist zu Be­ginn des 19. Jahr­hun­derts zu ver­zeich­nen, als die jü­di­sche Be­völ­ke­rung in­ner­halb von drei Jahr­zehn­ten von 260.000 Per­so­nen um 1815 auf etwa 400.000 im Jahr der Re­vo­lu­ti­on von 1848 an­stieg. Dies ge­schah par­al­lel zu einer oh­ne­hin an­wach­sen­den Be­völ­ke­rung – ein Zu­wachs, der al­ler­dings we­ni­ger deut­lich ver­lief als in­ner­halb der jü­di­schen Min­der­heit. Seit der Reichs­grün­dungs­zeit war ein fun­da­men­ta­ler de­mo­gra­phi­scher und damit ver­bun­den auch ein öko­no­mi­scher Wan­del zu be­ob­ach­ten. Um 1870 leb­ten die deut­schen Jü­din­nen und Juden in etwa 2.000 klei­nen und mitt­le­ren Ge­mein­den und in vier Groß­ge­mein­den mit über 2.000 Mit­glie­dern (Groß-Ber­lin, Bres­lau, Frank­furt am Main, Ham­burg). Im Ver­gleich zur Ge­samt­be­völ­ke­rung waren sie mo­bi­ler und kon­zen­trier­ten sich da­durch auch ver­stärkt in ei­ni­gen re­gio­na­len Zen­tren. Die Hälf­te aller in Deutsch­land le­ben­den Jü­din­nen und Juden waren in Preu­ßen an­zu­tref­fen, nach den Ge­biets­ver­grö­ße­run­gen aus dem Jahr 1866 gar 62 Pro­zent. Ein Fünf­tel der deut­schen Jü­din­nen und Juden lebte in Bay­ern. Auf­fäl­lig ist die im 19. Jahr­hun­dert be­gin­nen­de Ten­denz zur Ver­städ­te­rung (ein Vier­tel der Jü­din­nen und Juden wohn­te 1910 in Groß­städ­ten). Diese Ten­denz war frei­lich nicht nur für die jü­di­sche Be­völ­ke­rung fest­zu­stel­len, son­dern die Folge von neuen wirt­schaft­li­chen Per­spek­ti­ven, die die Städ­te durch die In­dus­tria­li­sie­rung Juden wie Chris­ten boten.

Ham­burg war die größ­te jü­di­sche Ge­mein­de in Nord­deutsch­land mit einem zeit­wei­li­gen un­ge­wöhn­lich hohen An­teil an der Ge­samt­be­völ­ke­rung von knapp 5 Pro­zent um 1800 und der be­son­de­ren Spe­zi­fik einer asch­ke­na­si­schen (6.299 Per­so­nen) und se­far­di­schen (130 Per­so­nen) Misch­be­völ­ke­rung. Den höchs­ten Stand er­reich­te die Zahl der Ham­bur­ger Jü­din­nen und Juden im Jahr 1925 mit 19.904 Per­so­nen, was etwa 1,7 Pro­zent der Ge­samt­be­völ­ke­rung ent­sprach. In den Jah­ren der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­fol­gung emi­grier­ten ab 1933 ca. 10-12.000 Juden aus Ham­burg, ei­ni­ge blie­ben in der Stadt und über­leb­ten in so­ge­nann­ten „Misch­ehen“. Be­reits we­ni­ge Mo­na­te nach Kriegs­en­de grün­de­te sich eine neue jü­di­sche Ge­mein­de mit etwa 80 Mit­glie­dern. Bis heute ist die or­tho­do­xe Ham­bur­ger Jü­di­sche Ge­mein­de auf über 2.000 Mit­glie­der an­ge­wach­sen, des Wei­te­ren exis­tiert seit 2004 eine Li­be­ra­le Ge­mein­de mit rund 500 Mit­glie­dern.

Anfänge jüdischen Lebens in Hamburg


Für die jü­di­sche Ge­schich­te Ham­burgs war die Ver­trei­bung der Juden von der Ibe­ri­schen Halb­in­sel im 15. Jahr­hun­dert von zen­tra­ler Be­deu­tung, eben­so wie die Ver­trei­bung aus den meis­ten Reichs­städ­ten sowie zahl­rei­chen Ter­ri­to­ri­en im aus­ge­hen­den 15. und be­gin­nen­den 16. Jahr­hun­dert, die zur For­mie­rung von Land­ju­den­schaf­ten führ­te. Die jü­di­sche An­sied­lung setz­te dabei zu einem Zeit­punkt ein, an dem an­de­re Städ­te ihre jü­di­sche Be­völ­ke­rung ge­ra­de ver­trie­ben. Damit be­ginnt die Ham­bur­gi­sche jü­di­sche Ge­schich­te ver­gleichs­wei­se spät und zu einem sehr un­ty­pi­schen Zeit­punkt für eine Stadt. Im Ver­lauf des 16. Jahr­hun­derts setz­te eine de­mo­gra­phi­sche Wende ein und die Stadt­ge­mein­den wuch­sen wie­der. Al­to­na und Ham­burg wur­den nun be­deut­sam: Um 1600 konn­ten sich asch­ke­na­si­sche Juden im Fle­cken Al­to­na nie­der­las­sen. 1612 er­hiel­ten sie dort ein so­ge­nann­tes Ge­ne­ral­ge­leit und bau­ten in­ner­halb eines Jahr­zehnts eine funk­tio­nie­ren­de Ge­mein­de­struk­tur aus, der 30 jü­di­sche Fa­mi­li­en an­ge­hör­ten. Von Al­to­na aus ver­such­ten die Asch­ke­na­sen auch in Ham­burg Fuß zu fas­sen.

Im letz­ten Drit­tel des 16. Jahr­hun­derts wurde Ham­burg zu einem be­gehr­ten Han­dels­platz für eng­li­sche und nie­der­län­di­sche Kauf­leu­te sowie eine Zu­fluchts­stät­te für Glau­bens­flücht­lin­ge von der Ibe­ri­schen Halb­in­sel, die vor allem über Ams­ter­dam nach Ham­burg mi­grier­ten. Es han­del­te sich dabei um so­ge­nann­te „Neu­chris­ten“, das heißt ge­tauf­te Juden (cristãos novos, con­versos, mar­ra­nos), die zur Grup­pe der Se­far­den ge­hör­ten. Die Por­tu­gie­sen, zu die­ser Zeit noch als Ka­tho­li­ken le­bend, waren damit die ers­ten Juden, die sich in der pro­tes­tan­ti­schen Ha­fen­stadt dau­er­haft nie­der­las­sen durf­ten. 1595 waren wohl sie­ben por­tu­gie­si­sche Fa­mi­li­en in Ham­burg an­säs­sig, 1609 be­reits 98 Per­so­nen. Als diese Zu­wan­de­rer je­doch zum Ju­den­tum zu­rück­kehr­ten, ver­lang­te die Bür­ger­schaft ihre Aus­wei­sung. Dies wurde städ­ti­scher­seits ver­hin­dert und sie konn­ten in Ham­burg blei­ben, so­fern sie keine ei­ge­ne jü­di­sche In­fra­struk­tur auf­bau­ten. Zur in Ham­burg ge­grün­de­ten se­far­di­schen Ein­heits­ge­mein­de zähl­ten 1652 rund 600 Mit­glie­der.

Ham­burg und Al­to­na zähl­ten im 17. und 18. Jahr­hun­dert zu den Zen­tren der deut­schen Juden. Die Ham­bur­ger asch­ke­na­si­sche jü­di­sche Ge­mein­de ent­wi­ckel­te sich nach meh­re­ren ge­schei­ter­ten Ver­su­chen ab 1650 von Al­to­na aus. Die dar­aus ent­ste­hen­de Ge­mein­de schloss sich 1671 mit der Al­to­na­er und der Wands­be­ker Ge­mein­de zur so­ge­nann­ten Drei­gemein­de zu­sam­men.

Die Ham­bur­ger jü­di­sche Be­völ­ke­rung stieg all­mäh­lich an und zähl­te an der Wende zum 19. Jahr­hun­dert mit 6.000 Jü­din­nen und Juden zu einer der größ­ten jü­di­schen Ge­mein­den im Deut­schen Reich. Damit mach­ten die Jü­din­nen und Juden über 5 Pro­zent der Ham­bur­ger Ge­samt­be­völ­ke­rung aus. Im 19. Jahr­hun­dert nahm diese Zahl wei­ter zu, um sich schließ­lich auf rund 14.000 Men­schen mehr als zu ver­dop­peln.

Sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert


Mit der Eman­zi­pa­ti­on er­öff­ne­ten sich neue Be­rufs­fel­der und das Tä­tig­keits­pro­fil der jü­di­schen Min­der­heit ver­än­der­te sich. Dar­aus re­sul­tier­te der kon­ti­nu­ier­li­che so­zia­le Auf­stieg in den neu ent­ste­hen­den bür­ger­li­chen Mit­tel­stand. Ähn­lich wie zuvor die Ein­schrän­kun­gen in der Be­rufs­wahl re­gio­nal un­gleich stark aus­ge­prägt waren, ge­stal­te­te sich nun auch die Än­de­rung der Be­rufs­fel­der und die Be­reit­schaft der jü­di­schen Min­der­heit, den Beruf zu wech­seln, ent­spre­chend un­ter­schied­lich. Dies lag größ­ten­teils an den von Ein­zel­staat zu Ein­zel­staat un­ter­schied­lich ge­re­gel­ten Zu­las­sun­gen bei­spiels­wei­se zu Hand­werk oder Grund-​ und Im­mo­bi­li­en­be­sitz.

Bis zu Be­ginn des 19. Jahr­hun­derts war die große Mehr­heit der deut­schen Juden arm. Die Hälf­te von ihnen ar­bei­te­te als Hand­lungs­ge­hil­fen, Haus­an­ge­stell­te und Ta­ge­löh­ner, ge­hör­te also zur Un­ter­schicht. Wäh­rend noch um 1850 etwa die Hälf­te der deut­schen Juden als arm gel­ten muss, waren dies 1871 nur noch 25 Pro­zent. In­ner­halb nur eines Jahr­hun­derts hat­ten sich Juden zu einer mehr­heit­lich mit­tel­stän­di­schen und ur­ba­nen Grup­pe ent­wi­ckelt. Etwa zwei Drit­tel der jü­di­schen Be­völ­ke­rung ge­hör­ten ab dem Kai­ser­reich von ihrer Be­rufs­struk­tur, vom Ein­kom­men und vom Ha­bi­tus her zum Bür­ger­tum. Auch die Ham­bur­ger Juden durch­leb­ten die­sen so­zia­len Auf­stieg im 19. Jahr­hun­dert. Noch zu Be­ginn des 19. Jahr­hun­derts zähl­ten dort etwa zwei Drit­tel der Ge­mein­de­mit­glie­der zu den Armen. Diese Zahl sank im Ver­lauf des 19. Jahr­hun­derts ra­pi­de. Zudem leb­ten ge­ra­de in Ham­burg ver­mö­gen­de Fa­mi­li­en, die eine zah­len­mä­ßig zwar klei­ne, aber be­stän­di­ge jü­di­sche Ober­schicht bil­de­ten.


Kaiserreich und Weimarer Republik (1871–1933): Veränderungen durch Zuwanderung und Binnenwanderung


Die nicht­jü­di­sche deut­sche Be­völ­ke­rung nahm im Kai­ser­reich schnel­ler zu als die jü­di­sche Min­der­heit. Der Be­völ­ke­rungs­zu­wachs der Juden ist dabei maß­geb­lich auf eine Ein­wan­de­rung aus dem Osten Eu­ro­pas zu­rück­zu­füh­ren, wäh­rend der Zu­wachs bei der üb­ri­gen Be­völ­ke­rung we­ni­ger durch Mi­gra­ti­on, son­dern vor allem durch ein „na­tür­li­ches“ Wachs­tum be­dingt war. Von den bis 1910 ins ge­sam­te Deut­sche Reich ein­ge­wan­der­ten rund 70.000 Juden aus Ost­eu­ro­pa ver­blie­ben die meis­ten in den gro­ßen Städ­ten wie Ber­lin und Leip­zig, wo sie bis zu einem Vier­tel der jü­di­schen Be­völ­ke­rung aus­mach­ten. Bil­de­te Ham­burg für jähr­lich bis zu 109.000 ost­eu­ro­päi­sche Juden eine Tran­sit­sta­ti­on, so sorg­ten ri­gi­de Zu­zugs­be­schrän­kun­gen und Aus­wei­sungs­maß­nah­men dafür, dass sich diese Durch­wan­de­rer nicht dau­er­haft in der Han­se­stadt nie­der­las­sen konn­ten. Den­noch war der über­wie­gen­de An­teil der aus­län­di­schen Juden in Ham­burg aus dem Osten Eu­ro­pas. Ins­ge­samt stell­ten sie 1925 aber nur 14 Pro­zent der jü­di­schen Be­völ­ke­rung, wäh­rend es im be­nach­bar­ten – bis 1937 preu­ßi­schenAl­to­na hin­ge­gen fast 47 Pro­zent waren. Ei­ni­ge der „ost­jü­di­schen“ Ein­woh­ner Al­to­nas leb­ten dort seit der Kai­ser­zeit; die Mehr­heit war je­doch erst wäh­rend des Ers­ten Welt­krie­ges oder in der Nach­kriegs­zeit dort an­säs­sig ge­wor­den. Weit­ge­hend mit­tel­los, be­durf­ten viele der Neu­zu­wan­de­rer einer Un­ter­stüt­zung, die sie von den Ge­mein­den er­hiel­ten. Auch wenn die aus­län­di­schen Juden den Ham­bur­ger ein­ge­ses­se­nen Juden recht­lich gleich­ge­stellt waren, bau­ten sie doch ein se­pa­ra­tes ge­sel­li­ges Leben auf.

Ende des 19. Jahr­hun­derts leb­ten in Ham­burg rund 14.000 Juden, das waren etwa 4 Pro­zent der ins­ge­samt 350.000 Ein­woh­ner Ham­burgs. Die Mit­glie­der der Portugiesisch-​Jüdischen Ge­mein­de mach­ten nur noch einen ge­ring­fü­gi­gen Teil der Ham­bur­ger jü­di­schen Be­völ­ke­rung aus. Noch in den 1870er-​Jahren hat­ten drei Vier­tel der jü­di­schen Min­der­heit in der Alt- und Neu­stadt in we­ni­gen Stra­ßen­zü­gen bei­sam­men ge­lebt. Mit der Reichs­grün­dung 1871 setz­te eine in­ner­städ­ti­sche Wan­de­rungs­be­we­gung ein: Wohl­ha­ben­de­re jü­di­sche Stadt­be­woh­ner zogen nun nach Ro­ther­baum, Har­ve­ste­hu­de und Ep­pen­dorf. Im heu­ti­gen Grin­del­vier­tel vor dem Damm­tor ent­stand das so­ge­nann­te „Klein-​Jerusalem“ mit jü­di­schem Klein­han­del und -​gewerbe sowie der Syn­ago­ge am Born­platz und der Tal­mud Tora Schu­le im Zen­trum.


An­non­ce zur Ge­schäfts­er­öff­nung des Le­bens­mit­tel­händ­lers David Bauer, Grin­del­al­lee 138 in Ham­burg, 18 x 13 cm
Quel­le: Bild­da­ten­bank des In­sti­tuts für die Ge­schich­te der deut­schen Juden, BER00004.


Hier leb­ten über­wie­gend eher klein­bür­ger­li­che, är­me­re und re­li­giö­se­re Juden. Um 1900 hat­ten sich in Ro­ther­baum und in Har­ve­ste­hu­de etwa 40 Pro­zent aller im städ­ti­schen Teil Ham­burgs le­ben­den Juden an­ge­sie­delt. Um 1925 er­reich­te die Kon­zen­tra­ti­on in die­sen we­ni­gen Stadt­tei­len ihren Hö­he­punkt mit rund 70 Pro­zent der knapp 20.000 in Ham­burg le­ben­den Juden. Wäh­rend der Pro­zent­satz der Juden an der Ge­samt­be­völ­ke­rung bei nur 1,72 Pro­zent lag, er­reich­te er in Ro­ther­baum und Har­ve­ste­hu­de mit je­weils gut 15 Pro­zent eine be­trächt­li­che Höhe.

Bis 1910 stieg zwar die Zahl der jü­di­schen Be­woh­ner Ham­burgs an, da aber die Stadt all­ge­mein eine star­ke Zu­wan­de­rung zu ver­zeich­nen hatte, nahm der re­la­ti­ve An­teil an der Be­völ­ke­rung deut­lich ab. Zwar blieb Ham­burg nach Ber­lin, Frank­furt am Main und Bres­lau die viert­größ­te jü­di­sche Ge­mein­de im Kai­ser­reich, aber die nun fast 19.000 Jü­din­nen und Juden stell­ten nur noch 1,87 Pro­zent der Stadt­be­völ­ke­rung. Dies ist auch dar­auf zu­rück­zu­füh­ren, dass ein Groß­teil der Ham­bur­ger Juden der Mittel-​ und Ober­schicht an­ge­hör­te, in der das Hei­rats­al­ter ten­den­zi­ell höher lag und die Ehen kin­der­är­mer waren als in der Ge­samt­be­völ­ke­rung. Nur noch etwa die Hälf­te der zu die­ser Zeit in Ham­burg le­ben­den Juden war eben­dort ge­bo­ren. Das de­mo­gra­phi­sche Wachs­tum war somit auch wei­ter­hin in ers­ter Linie auf Zu­wan­de­rung zu­rück­zu­füh­ren. Die An­zahl der in Ham­burg le­ben­den Jü­din­nen und Juden er­reich­te 1925 ihren Höchst­stand mit 19.904 Men­schen.


Schu­le, Turn­hal­le und Syn­ago­ge im Grin­del­vier­tel in Ham­burg
Quel­le: ab­ge­druckt in: Ham­burg und seine Bau­ten unter Be­rück­sich­ti­gung der Nach­bar­städ­te Al­to­na und Wands­bek 1914, hrsg. v. Architekten-​ und Ingenieur-​Verein zu Ham­burg, Ham­burg 1914, S. 142, Abb. 141; Staats-​ und Uni­ver­si­täts­bi­blio­thek Ham­burg Carl von Os­sietz­ky, per­sis­ten­te URL: PPN639579191, CC BY-SA 4.0.


Spezifika der jüdischen Bevölkerungsentwicklung


Reichs­weit war ab der Jahr­hun­dert­wen­de ein Rück­gang des jü­di­schen Be­völ­ke­rungs­an­teils zu ver­zeich­nen, auch ihre ab­so­lu­te Zahl war ab Mitte der 1920er-​Jahre rück­läu­fig. 1933 mach­ten sie nur noch 0,77 Pro­zent der Ge­samt­be­völ­ke­rung aus. Die­ser Be­völ­ke­rungs­rück­gang lag vor allem im Ge­bur­ten­rück­gang be­grün­det, der be­reits im spä­ten 19. Jahr­hun­dert ein­ge­setzt hatte. Kon­ver­sio­nen und Aus­trit­te aus dem Ju­den­tum hin­ge­gen spiel­ten hier­bei nur eine ge­ring­fü­gi­ge Rolle, auch wenn das damit ver­bun­de­ne be­droh­li­che Ver­lust­sze­na­rio un­gleich grö­ßer war.

Es gab auch wei­te­re spe­zi­fi­sche in­ner­jü­di­sche Grün­de für die Ver­än­de­run­gen im de­mo­gra­phi­schen Pro­fil der jü­di­schen Be­völ­ke­rung. So war bei­spiels­wei­se die Sterb­lich­keits­ra­te bei den Juden be­deu­tend ge­rin­ger als bei den Nicht­ju­den und die Le­bens­er­war­tung der Neu­ge­bo­re­nen höher als in der Ge­samt­be­völ­ke­rung. Da aber zu­gleich die Ge­bur­ten­ra­te bei den Juden frü­her zu­rück ging als bei den Chris­ten und auch die Ge­samt­be­völ­ke­rung von einer sin­ken­den Sterb­lich­keits­ra­te pro­fi­tier­te, nahm der jü­di­sche Be­völ­ke­rungs­an­teil sta­tis­tisch ab.

Das Hei­rats­al­ter der jü­di­schen Be­völ­ke­rung war im Ver­lauf des 19. Jahr­hun­derts an­ge­stie­gen und die Zahl der Kin­der pro Fa­mi­lie ge­sun­ken. Diese Fak­to­ren tru­gen unter an­de­rem zur Über­al­te­rung der jü­di­schen Be­völ­ke­rung bei. Juden waren bei­spiels­wei­se in Preu­ßen im Jahr 1925 durch­schnitt­lich 30,5 Jahre alt. Die durch­schnitt­li­che Zahl der Kin­der lag bei 1,3 Kin­dern pro Frau im Jahr 1923. Rund ein Vier­tel der ver­hei­ra­te­ten jü­di­schen Frau­en blie­ben kin­der­los. Diese de­mo­gra­phi­sche Ent­wick­lung wurde be­reits von den Zeit­ge­nos­sen sor­gen­voll als „der Un­ter­gang des deut­schen Ju­den­tums“ be­schrie­ben.

Eine Be­son­der­heit der jü­di­schen Le­bens­si­tua­ti­on war die Frage, wie mit Ehe­schlie­ßun­gen zwi­schen Juden und Nicht­ju­den um­zu­ge­hen sei. Auf­fal­lend war der An­stieg so­ge­nann­ter „Misch­ehen“, also Ehen, die die Kon­fes­si­ons­gren­zen über­schrit­ten. Diese ent­stan­den vor allem in Groß­städ­ten, wo die Zahl der jü­di­schen Be­völ­ke­rung höher war. Zudem be­geg­ne­ten sich hier Juden und Nicht­ju­den in ak­kul­tu­rier­ten städ­ti­schen Mi­lieus, in denen die re­li­giö­se Ge­bun­den­heit zu­neh­mend se­kun­där ge­wor­den war. Seit 1849 durf­ten in Ham­burg die Juden, die im Be­sitz des Bür­ger­rech­tes Recht der Selbst­ver­wal­tung; Vor­aus­set­zung für die Er­lan­gung des Bür­ger­rechts war ge­erb­ter Grund­be­sitz, das Leis­ten eines Bür­gerei­des und die Zah­lung eines Bür­ger­gel­des; Ad­li­ge waren davon aus­ge­schlos­se­nen; bis 1814 war es An­ge­hö­ri­gen der lu­the­ri­schen Kir­che vor­be­hal­ten waren, Ehen mit An­ge­hö­ri­gen einer an­de­ren Kon­fes­si­on ein­ge­hen. Für Frau­en galt dies erst spä­ter, mit der Ein­füh­rung der so­ge­nann­ten Zi­vil­ehe 1851. Gleich­zei­tig war in der Mitte des 19. Jahr­hun­derts eine wach­sen­de Zahl von Ehe­schlie­ßun­gen von se­far­di­schen mit asch­ke­na­si­schen Ehe­part­nern zu be­ob­ach­ten. Die Zahl von „Misch­ehen“ nahm in Ham­burg über­durch­schnitt­lich stark zu, nach dem Ers­ten Welt­krieg waren es knapp 25 Pro­zent, 1933 schon fast 60 Pro­zent aller Ehe­schlie­ßun­gen mit einem jü­di­schen Part­ner oder einer jü­di­schen Part­ne­rin. Zah­len wie diese sorg­ten für Be­un­ru­hi­gung in­ner­halb der jü­di­schen Ge­mein­schaft, die um ihren Fort­be­stand fürch­te­te, weil die Kin­der in der Regel ge­tauft oder zu­min­dest christ­lich er­zo­gen wur­den. Die ge­nann­ten Spe­zi­fi­ka des jü­di­schen Be­völ­ke­rungs­pro­fils führ­ten zu einer bei­na­he ob­ses­si­ven Be­schäf­ti­gung von Ver­tre­tern der jü­di­schen Min­der­heit mit Fra­gen der De­mo­gra­phie. Ge­ra­de als Min­der­heit, so­wohl an­ti­se­mi­tisch von außen be­droht als auch von innen durch be­fürch­te­te Auf­lö­sungs­ten­den­zen in Frage ge­stellt, war die Be­schäf­ti­gung mit der so­zia­len und be­völ­ke­rungs­po­li­ti­schen Ent­wick­lung der ei­ge­nen Grup­pe ab der Wende zum 20. Jahr­hun­dert zen­tral.


An­zahl der Mit­glie­der der jü­di­schen Ge­mein­den in Ham­burg (in­klu­si­ve Al­to­na and Wands­bek), Ent­wick­lung von 1815-2004
Quel­le: an­ge­fer­tigt von Fi­an­na Meyer-​Sand, auf Grund­la­ge von: Klaus-​Dieter Ali­cke, Le­xi­kon der jü­di­schen Ge­mein­den im deut­schen Sprach­raum, Mün­chen 2008, S. 1711-1726, hier: S. 1712; Arno Her­zig (Hrsg.), Die Juden in Ham­burg 1590 bis 1990. Wis­sen­schaft­li­che Bei­trä­ge der Uni­ver­si­tät Ham­burg zur Aus­stel­lung „Vier­hun­dert Jahre Juden in Ham­burg“, Ham­burg 1991.


Nationalsozialistische Verfolgung (1933–1945)


Der Auf­stieg des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ver­än­der­te das so­zio­de­mo­gra­phi­sche Pro­fil der Juden fun­da­men­tal. Die an­ti­se­mi­ti­schen Re­pres­sa­li­en zwan­gen zahl­lo­se Juden zur Aus­wan­de­rung. Aus Ham­burg emi­grier­ten auch die ver­blie­be­nen Por­tu­gie­sen­fa­mi­li­en nach Hol­land, in die USA und nach Frank­reich, we­ni­ge wähl­ten Pa­läs­ti­na oder Por­tu­gal als ihre neue Hei­mat. Nach 1933 ver­rin­ger­te sich die jü­di­sche Be­völ­ke­rung reichs­weit durch Emi­gra­ti­on bis Kriegs­aus­bruch um rund 250.000 Men­schen. Die jü­di­sche Min­der­heit hatte sich in­ner­halb von sechs Jah­ren also mehr als hal­biert. In Ham­burg war die Zahl der Jü­din­nen und Juden 1933 be­reits auf 16.885 von zuvor fast 20.000 Men­schen zu­rück­ge­gan­gen.


Schü­le­rin­nen der Schneider-​Fachschule in der John­s­al­lee in Ham­burg, März 1937, 7 x 5 cm
Quel­le: Bild­da­ten­bank des In­sti­tuts für die Ge­schich­te der deut­schen Juden, 21-015/550, Samm­lung Ur­su­la Randt.


Mit In­kraft­tre­ten der Nürn­ber­ger Ras­se­ge­set­ze ver­än­der­ten sich die Kri­te­ri­en, nach denen deut­sche Juden ge­zählt wur­den. Nach den neuen Ras­se­kri­te­ri­en zähl­ten nun außer den 500.000 Juden, die Mit­glie­der jü­di­scher Ge­mein­den waren, auch die­je­ni­gen, die kei­ner Ge­mein­de an­ge­hör­ten, ge­tauft oder glau­bens­los waren. „Misch­lin­ge“ wur­den als Son­der­grup­pe be­han­delt, die Schlie­ßung wei­te­rer „Misch­ehen“ wurde un­ter­sagt. Die be­stehen­den „Misch­ehen“ aber blie­ben gül­tig. Bei Kriegs­en­de 1945 gab es noch etwa 12.000 „Misch­ehen“ in Deutsch­land, davon 631 in Ham­burg.

Ein wei­te­rer Grund für die Ver­än­de­run­gen lag in der reichs­wei­ten Zwangs­ab­schie­bung der pol­ni­schen bzw. ehe­mals pol­ni­schen Juden nach Polen Ende Ok­to­ber 1938. In Ham­burg waren etwa 1.000 Per­so­nen be­trof­fen. Ins­ge­samt emi­grier­ten zwi­schen 1933 und 1941 ca. 10-12.000 Juden aus Ham­burg, dabei 1938 fast so viele wie in den fünf Jah­ren zuvor. Dem größ­ten Teil der Ham­bur­ger Emi­gran­ten ge­lang die Flucht in die USA; Groß­bri­tan­ni­en, Pa­läs­ti­na und China (Shang­hai) waren eben­falls häu­fig ge­wähl­te Län­der. Zu den Flücht­lin­gen ge­hör­ten auch ca. 1.000 Ham­bur­ger Kin­der, die mit den so­ge­nann­ten Kin­der­trans­por­ten nach Groß­bri­tan­ni­en ge­lang­ten. Am 23.10.1941 wurde die Aus­wan­de­rung reichs­weit ver­bo­ten. Zu die­sem Zeit­punkt be­trug die An­zahl der Juden im Sinne der Nürn­ber­ger Ge­set­ze in­fol­ge der be­gon­ne­nen De­por­ta­tio­nen nur noch 4.951 Men­schen, davon leb­ten 1.290 in so­ge­nann­ter „Misch­ehe“. 85 Pro­zent der Ham­bur­ger Juden waren älter als 40 Jahre, 55 Pro­zent älter als 60 Jahre.


Wiederaufbau nach 1945


Bei Kriegs­en­de be­fan­den sich auf deut­schem Ter­ri­to­ri­um etwa 15.000 deut­sche Juden, ei­ni­ge Tau­send von ihnen hat­ten in Ver­ste­cken über­lebt. Die meis­ten konn­ten über­le­ben, weil sie in einer so­ge­nann­ten „pri­vi­le­gier­ten Misch­ehe“ (wenn die Ehe­frau Jüdin war oder die Kin­der christ­lich er­zo­gen wur­den) leb­ten, die sie in den meis­ten Fäl­len vor der De­por­ta­ti­on ge­schützt hatte. Etwa 9.000 deut­sche Juden, die die Get­tos und Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger­haft au­ßer­halb Deutsch­lands oder in den ein­ge­deutsch­ten Ge­bie­ten wie bei­spiels­wei­se in The­re­si­en­stadt über­lebt hat­ten, kehr­ten eben­falls zu­rück. Dazu kamen noch jü­di­sche Dis­pla­ced Per­sons (DPs) aus Ost­eu­ro­pa, im Sep­tem­ber 1945 waren dies 53.000 jü­di­sche DPs. Die Zahl der jü­di­schen DPs auf deut­schem Ter­ri­to­ri­um stieg an, sie mach­ten die größ­te jü­di­sche Grup­pe auf deut­schem Ter­ri­to­ri­um nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges aus und kon­zen­trier­ten sich vor allem im ame­ri­ka­nisch be­setz­ten Bay­ern. In Nord­deutsch­land war Ber­gen Bel­sen das größ­te Zen­trum. Deutsch­land stell­te für die meis­ten die­ser DPs nicht mehr als eine Zwi­schen­sta­ti­on dar. Doch lange nicht alle von ihnen wan­der­ten tat­säch­lich in das 1948 ge­grün­de­te Is­ra­el oder in die USA aus. Viele blie­ben in Deutsch­land und grün­de­ten dort erste neue jü­di­sche Ge­mein­den. Ein Aus­wan­de­rungs­wunsch wurde je­doch häu­fig noch sehr lange ge­hegt.

Die meis­ten Juden, die im Nach­kriegs­deutsch­land leb­ten, waren keine Nach­fah­ren von deut­schen Juden, son­dern stamm­ten aus Ost­eu­ro­pa. Sie hat­ten Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger oder im Osten und Süden der So­wjet­uni­on über­lebt und waren nach Kriegs­en­de west­wärts ge­zo­gen. In Deutsch­land lan­de­ten sie dann in den La­gern für die „Dis­pla­ced Per­sons“. Es gab auch ei­ni­ge deut­sche Juden, die aus der Emi­gra­ti­on wie­der zu­rück in die BRD oder DDR kamen. Diese, zu­sam­men mit Juden aus Polen und der So­wjet­uni­on, bil­de­ten den Grund­stock der jü­di­schen Ge­mein­den im Nach­kriegs­deutsch­land, die durch Über­al­te­rung ge­prägt waren. Die An­zahl der (west-)deut­schen Juden lag in der Nach­kriegs­zeit bei rund 30.000. In der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne wur­den etwa 4.500 Juden ge­zählt, nach Re­pres­sa­li­en in den frü­hen 1950er-​Jahre waren le­dig­lich 1.700 Juden in der DDR Mit­glie­der in den dor­ti­gen Ge­mein­den. In den 1960er-​Jahren wohn­ten nur 10 Pro­zent der in Deutsch­land le­ben­den Juden in der DDR. Wäh­rend die An­zahl der ost­deut­schen Juden wegen des hohen Durch­schnitts­al­ters zu­rück­ging, blieb die Zahl der west­deut­schen Juden recht be­stän­dig bei 25–30.000.


In Ham­burg leb­ten nach Kriegs­en­de 1945 noch 647 Juden, fast alle in „Misch­ehen“ ver­hei­ra­tet. Wei­te­re 50 bis 80 Per­so­nen hat­ten Ver­fol­gung und Krieg im Ver­steck oder unter fal­scher Iden­ti­tät über­lebt. Im Sep­tem­ber 1945 wurde auf einer Ver­samm­lung in Ham­burg, an der knapp 80 Per­so­nen teil­nah­men, eine jü­di­sche Ge­mein­de als ge­mä­ßigt or­tho­do­xe Ein­heits­ge­mein­de ge­grün­det. Im März 1947 hatte sie schon 1.268 Mit­glie­der, von denen 671 in so­ge­nann­ten „Misch­ehen“ mit nicht­jü­di­schen Part­nern ver­hei­ra­tet waren. Den­noch war die Mit­glie­der­zahl in­fol­ge von Über­al­te­rung, nied­ri­ger Ge­bur­ten­ra­te und Aus­wan­de­rung rück­läu­fig.

Nach Kriegs­en­de und bis in die Mitte der 1950er-​Jahre kehr­ten immer wie­der Emi­gran­ten nach Ham­burg zu­rück und ost­eu­ro­päi­sche Juden wan­der­ten zu. Oben­drein lie­ßen sich 150 jü­di­sche Fa­mi­li­en aus dem Iran in Ham­burg nie­der. Die An­zahl der Ge­mein­de­mit­glie­der pen­del­te sich in den nächs­ten Jahr­zehn­ten bei rund 1.400 ein.

Auch das Be­rufs­pro­fil der jü­di­schen Ge­mein­schaft, die sich nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges bil­de­te, folg­te nicht mehr den Vor­kriegs­mus­tern. Die Po­li­tik der West­al­li­ier­ten in der un­mit­tel­ba­ren Nach­kriegs­zeit brach­te in ei­ni­gen Re­gio­nen wie­der ein be­son­de­res Wirt­schafts­pro­fil her­vor. Dies be­traf vor allem die erste Nach­kriegs­ge­nera­ti­on der jü­di­schen Ge­mein­schaft: In Deutsch­land le­ben­de Juden, dar­un­ter viele pol­ni­sche, er­hiel­ten von den Al­li­ier­ten be­son­ders un­kom­pli­ziert Kon­zes­sio­nen für Gast­stät­ten und Bars, man­che konn­ten im Im­mo­bi­li­en­ge­schäft Fuß fas­sen. Im Han­del fiel wei­ter­hin die Häu­fung von jü­di­schen Ge­schäfts­leu­ten in der Tex­til­bran­che in den 1950er- und 1960er-​Jahren auf. Eine wei­te­re star­ke Grup­pe unter den in Deutsch­land ver­blei­ben­den, vor allem aber der nach Deutsch­land zu­rück­keh­ren­den Juden waren die Ju­ris­ten: Nicht nur die deut­sche Spra­che, son­dern auch die Kennt­nis des deut­schen Rechts­sys­tems be­güns­tig­ten ihre Rück­kehr nach Deutsch­land.

Neue Zuwanderung nach 1989 / 90


Einen neu­er­li­chen Auf­schwung er­fuhr die jü­di­sche Ge­mein­schaft in Deutsch­land nach dem Mau­er­fall und der Ver­ei­ni­gung der bei­den deut­schen Staa­ten im Jahr 1990, als eine star­ke Zu­wan­de­rung aus der ehe­ma­li­gen So­wjet­uni­on ein­setz­te. Die DDR-​Regierung hatte im Früh­jahr 1990 be­schlos­sen, ver­folg­ten Juden aus der So­wjet­uni­on ein pau­scha­les Blei­be­recht zu­zu­ge­ste­hen. In den Ver­hand­lun­gen zur Wie­der­ver­ei­ni­gung der bei­den deut­schen Staa­ten wurde ent­schie­den, diese Auf­nah­me­po­li­tik fort­zu­füh­ren. Die jü­di­schen Ge­mein­den Deutsch­lands ver­än­der­ten sich fun­da­men­tal in­fol­ge die­ser Zu­wan­de­rung: Zwi­schen 1991 und 2004 zogen etwa 190.000 sol­cher Kon­tin­gent­flücht­lin­ge nach Deutsch­land. Knapp die Hälf­te von ihnen wurde Mit­glied in einer der jü­di­schen Ge­mein­den. Ein Drit­tel der 1989 in Ham­burg re­gis­trier­ten knapp über 1.300 Ge­mein­de­mit­glie­der war älter als 60 Jahre. In den kom­men­den Jah­ren stieg die Mit­glie­der­zahl in­fol­ge der Zu­wan­de­rung an und ver­jüng­te sich zu­gleich. In Ham­burg tra­fen die ers­ten rund 30 der so­ge­nann­ten „Kon­tin­gent­flücht­lin­ge“ 1991 ein und wur­den von der Ge­mein­de be­treut. 2004 ver­zeich­ne­te die jü­di­sche Ge­mein­de be­reits 5.000 Mit­glie­der.


Aus­schnitt aus Karte „Orte jü­di­schen Le­bens und jü­di­scher Ge­schich­te in Ham­burg
Quel­le: Orte jü­di­schen Le­bens und jü­di­scher Ge­schich­te in Ham­burg, hrsg. v. Kul­tur­be­hör­de Ham­burg in Zu­sam­men­ar­beit mit In­sti­tut für die Ge­schich­te der deut­schen Juden.


Das jü­di­sche So­zi­al­le­ben ver­än­der­te sich da­durch si­gni­fi­kant: Es wur­den ein jü­di­scher Kin­der­gar­ten sowie die Jo­seph Car­le­bach Schu­le ge­grün­det; letzt­ge­nann­te ist seit 2002 im Ge­bäu­de der ehe­ma­li­gen Tal­mud Tora Schu­le un­ter­ge­bracht. Heute wird davon aus­ge­gan­gen, dass rund 200.000 Juden in Deutsch­land leben, von denen aber nur die Hälf­te (etwa 108.000 im Jahr 2007) Mit­glie­der einer jü­di­schen Ge­mein­de sind. Im Jahr 2015 zähl­te die or­tho­do­xe Ham­bur­ger Jü­di­sche Ge­mein­de 2.445 Mit­glie­der. Des Wei­te­ren exis­tiert seit 2004 eine Li­be­ra­le Ge­mein­de mit rund 500 Mit­glie­dern.

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Zur Autorin

Miriam Rürup (Thema: Demographie und soziale Strukturen), Prof. Dr., ist Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschlechtergeschichte, Deutsch-jüdische Geschichte, Zeitgeschichte, Migrationsgeschichte, Studenten- und Universitätsgeschichte, Geschichte der Erinnerungspolitik sowie Geschichte des Nationalsozialismus.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Miriam Rürup, Demographie und soziale Strukturen, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-224.de.v1> [14.03.2025].

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