„Vorausgesetzt, daß wir nicht vorher am Warten ‚eingehen‘“. Annäherung an einen Brief und sein Rätsel.

Barbara Müller-Wesemann

Quellenbeschreibung

Am 12.7.1934, dem Datum des vorliegenden Briefes, bestand die „Jüdische Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft e.V.“ (hier: Jüd. Ges. f. K. & W.), ein in Hamburg eingetragener Verein, seit sechs Monaten. Sie bot jüdischen Kunstschaffenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die auf Grund der nationalsozialistischen Gesetzgebung ihre Posten verloren hatten, neue Auftrittsmöglichkeiten und damit finanzielle Unterstützung. Leopold Sachse, der 1933 entlassene Intendant des Hamburger Stadttheaters, der heutigen Staatsoper, war der künstlerischer Leiter der Gesellschaft. In seinem Schreiben wandte er sich an Anny Gowa, Bühnen- und Kostümbildnerin, verheiratet mit Ferdinand Gowa. Der Literaturwissenschaftler und Jurist Gowa, hier scherzhaft „mein lieber Mitarbeiter“ genannt, war der Geschäftsführer der Gesellschaft. Sachse teilte Anny Gowa mit, dass ihre eingereichten Kostümentwürfe auf eine sehr positive Resonanz gestoßen seien und nach Abschluss eines Vertrages für die geplante Inszenierung übernommen würden. Im Verlauf einer Korrespondenz im Jahr 1992 hat Anny Gowa der Autorin den Brief in Kopie zur Verfügung gestellt.

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Zur Vorgeschichte. Das Umbruchsjahr 1933


Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler wurde die jüdische Bevölkerung mit Gesetzen und administrativen Maßnahmen drangsaliert. Im April 1933 sanktionierte das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ die Verdrängung der Jüdinnen und Juden aus sämtlichen staatlichen und kommunalen Ämtern. In seiner sinngemäßen Anwendung wurden auch jüdische Künstlerinnen und Künstler sukzessive aus den Theatern, Orchesterbetrieben und Rundfunkanstalten entlassen. Die Deutsch-Israelitische Gemeinde richtete, gemeinsam mit weiteren jüdischen Organisationen der Hansestadt, daraufhin eine „Beratungsstelle für jüdische Wirtschaftshilfe“ ein, die unter anderem für die Suche nach Erwerbsmöglichkeiten für die aufgrund der NS-Gesetzgebung arbeitslos gewordenen Jüdinnen und Juden zuständig war. In enger Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle bildeten sich Fachschaften, darunter auch eine „Fachschaft Künstler“, die sich am 29.5.1933 mit einer ersten Wohltätigkeitsveranstaltung an die jüdische Öffentlichkeit wandte. Im großen Betsaal des liberalen Tempels in der Oberstraße wurde neben Rezitationen ein vielfältiges musikalisches Programm von Buxtehude und Bach bis Schubert und Mendelssohn-Bartholdy geboten. Die Leitung des Abends hatte Leopold Sachse übernommen. Nach einem weiteren Konzert und zwei Theaterabenden mit Szenen aus den Dramen Lessings, Schillers und Kleists, deren Erlöse wiederum erwerbslose Künstlerinnen und Künstler unterstützen sollten, waren die Veranstaltungen der Fachschaft zu einer festen Einrichtung geworden. Im September trennte sich das Ensemble von der „Fachschaft Künstler“ und gründete die unabhängige „Gemeinschaft jüdischer Künstler“, zu deren dreiköpfigem Vorstand Ferdinand Gowa gehörte. Bereits nach der ersten Aufführung entbrannte eine Diskussion über die Frage, ob sich jüdisches Theater über die Thematik seiner Stoffe definieren müsse. Unter den Künstlerinnen und Künstlern, die bislang an den deutschen Bühnen gewirkt hatten, herrschte große Unsicherheit. Zum einen hatte für die meisten die Zugehörigkeit zum Judentum in ihrem Schaffen bislang keine besondere Rolle gespielt und die Notwendigkeit, hieran etwas zu ändern, sahen sie nicht. Zum anderen war die Auswahl an Stücken jüdischen Inhalts begrenzt. Auch angesichts der noch nicht erkennbaren Publikumsinteressen schien es unmöglich, sich auf einen zukünftigen Spielplan zu einigen, und so löste sich die Gemeinschaft bereits zum Jahresende 1933 wieder auf. Allerdings fand noch unter ihrem Namen im Januar 1934 eine Operninszenierung statt, die einzige, die jüdische Künstlerinnen und Künstler in den Jahren ihres Ausschlusses aus dem öffentlichen Kulturleben in Hamburg realisieren konnten. Auf dem Programm standen Pergolesis Intermezzo: „La serva padrona“ und Mozarts Singspiel „Bastien und Bastienne“. Regie führte Leopold Sachse, das Bühnenbild schuf Anny Gowa.

Zuständigkeiten. Eine bürokratische Posse


Wenige Tage vor dem Opernabend im Januar 1934 war die „Jüdische Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft in Hamburg e.V.“ gegründet worden. Mit Ferdinand Gowa als ihrem Geschäftsführer und Leopold Sachse als künstlerischem Leiter trat sie die unmittelbare Nachfolge der „Gemeinschaft jüdischer Künstler“ an. Ihr Status und ihre Organisationsstrukturen glichen den im Reich bereits existierenden jüdischen Kulturbünden. Der Eintrag der Gesellschaft ins Vereinsregister erfolgte zwei Monate später. Damit war zwar ein aktenkundiger Tatbestand geschaffen, die Hamburger Behörden konnten jedoch nicht klären, ob das zukünftige Programm des Vereins einer Erlaubnispflicht unterliegen würde. Die Gründer und Organisatoren der Gesellschaft ahnten zu diesem Zeitpunkt nicht, welche bürokratische Posse sich daraufhin auf Reichs- und Landesebene zu ihren Lasten abspielen sollte. Insbesondere zwischen dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) und dem Preußischen Ministerium für Kunst und Wissenschaft entbrannte ein Machtkampf um Zuständigkeiten. Er führte dazu, dass die Gesellschaft mangels Erteilung einer Theaterkonzession noch für Monate in ihrer Programmgestaltung blockiert war. Es begann eine lange Zeit des Wartens. Als im Mai 1934 das reichsweit geltende Theatergesetz, das Juden den Zuritt zu öffentlichen Kulturinstitutionen generell untersagte, in Kraft trat, war diese Maßnahme für die Gesellschaft zugleich ein Anlass zur Hoffnung: Aufführungen dramatischer Werke, wie man sie als eingetragener jüdischer Verein plante, fielen nicht unter das Theatergesetz. Sie würden ja nicht öffentlich zugänglich sein, sondern ausschließlich für die Mitglieder des Vereins, also für die Kunstschaffenden und ihr Publikum. Die Hamburger Behörde für Volkstum, Kirche und Kunst sowie die Gewerbepolizei gaben sich dennoch erneut ratlos und wandten sich an das RMVP, wo sie mit ihrer Frage eine Grundsatzdiskussion mit vorerst offenem Ende auslösten. Die wiederholten Vermittlungsversuche Kurt Singers, des Vorsitzenden des Kulturbundes Deutscher Juden in Berlin, konnten die Blockade nicht beenden. Erlaubt waren zwar musikalische und literarische Abende, Kleinkunst und Kabarett, die „Genehmigung“ für Schauspiel blieb dagegen weiterhin aus.

Allen Widerständen zum Trotz


In dieser nur schwer erträglichen Zeit des Wartens also wandte sich Leopold Sachse mit der Bitte um weitere Entwürfe an Anny Gowa, die er vermutlich spätestens seit ihrer Zusammenarbeit beim zurückliegenden Opernabend sehr schätzte. Sachse war bis zu seiner Entlassung aus dem Stadttheater für seinen Regiestil von den Anhängern moderner Operninszenierungen gefeiert, vom konservativen und rechtslastigen Teil des Publikums hingegen zunehmend niedergebrüllt worden. Er hatte dort unter anderem mit Panos Aravantinos zusammengearbeitet, einem von Expressionismus und Kubismus geprägten, visionären Bühnenbildner. Von den bereits vorliegenden Entwürfen Anny Gowas, die als ehemalige Bauhaus-Schülerin bei der künstlerischen Avantgarde in Weimar und Dessau studiert hatte, schien er jedenfalls, wie aus seinem Brief hervorgeht, sichtlich angetan gewesen zu sein. Wie der Brief ebenfalls bezeugt, nahm die Gesellschaft ungeachtet der bürokratischen Widerstände ihre Arbeit auf, wenn auch notgedrungen vorerst als eine Besucherorganisation ohne Theater-Spielplan und ohne festes Ensemble. Im November 1934 lud sie zu einem ersten Werbeabend ein. Weitere Veranstaltungen folgten, darunter Konzerte mit Hamburger, Berliner und Frankfurter Orchestern, Vortrags- und Rezitationsabende, Kabarett sowie Tanz- und Filmvorführungen. Acht Monate später, im Juli 1935, traf die Theaterkonzession endlich bei der Gesellschaft ein, und so konnte die Sommerspielzeit mit Einaktern von Schnitzler, Strindberg und Tschechow abgeschlossen werden. Regie führte Arthur Holz, einst renommierter Dramaturg und Regisseur an so bedeutenden Häusern wie dem Wiener Burgtheater und dem Hamburger Thalia Theater. Leopold Sachse war zu diesem Zeitpunkt bereits als künstlerischer Leiter zurückgetreten; er befand sich auf dem Weg in die USA, wo er mit Beginn der Wintersaison eine neue Aufgabe an der New Yorker Metropolitan Opera übernehmen sollte.

Offene Fragen


Welches dramatische oder musikalische Werk Sachse im Sommer 1934 zu inszenieren beabsichtigte, geht aus seinem Brief an Anny Gowa nicht hervor. Die Frage, ob sein Plan in den Folgejahren von einem anderen Regieteam übernommen und realisiert wurde, muss daher unbeantwortet bleiben. Bei dem Hinweis auf den Mann „im Zustand Adams vor dem Sündenfall“ bediente sich Sachse einer allgemein üblichen Redewendung, die keine Rückschlüsse auf die geplante Inszenierung und ihre Figuren erlaubt. Wie mir Anny Gowa im Verlauf unserer Korrespondenz 1992 schrieb, waren ihr aus jenen Jahren künstlerischen Schaffens einzig eine Postkarte des Malers Kurt Löwengard und dieser Brief geblieben. An seinen konkreten Anlass konnte sie sich jedoch nicht mehr erinnern. Alles andere als rätselhaft ist dagegen die Bedeutung des Briefes als zeithistorisches Dokument. Mit dem Wissen um die rassistische Ausgrenzungspolitik des NS-Regimes verweist er insbesondere auf die Bedrängnis der jüdischen Künstlerinnen und Künstler, deren Schaffenskraft durch ein zynisches Machtspiel ausgebremst worden war. Wem sich die Möglichkeit bot, Deutschland zu verlassen, war zumeist gezwungen, sich auf ein völlig anderes, oft entbehrungsreiches Leben in einem fremden Land einzustellen. Dieser lebensrettende Schritt bedeutete aber zugleich für viele den Verlust ihres geistigen und kulturellen Potenzials. Im allgemeinen Kontext der Hilfsmaßnahmen durch die jüdischen Institutionen, von der Beratungsstelle und ihrer Fachschaft bis zum Kulturbund in seiner endgültigen Form, wird der Brief zu einem Zeugnis der Selbstbehauptung und der Solidarität gleichermaßen: Für die jüdischen Künstlerinnen und Künstler bedeutete die künstlerische Praxis trotz der erschwerten Bedingungen die Wahrung ihrer professionellen Identität; für das aus dem allgemeinen kulturellen Leben der Stadt ausgeschlossene Publikum bot sich die Möglichkeit, dem schwierigen Alltag für ein paar Stunden zu entfliehen und gemeinsam mit anderen Menschen Kunst zu erleben.

Ausblick


Die Spielzeit 1935 / 36 begann mit einer Namensänderung. Aus der „Jüdischen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft e.V.“ wurde der „Jüdische Kulturbund Hamburg e.V.“ Sein Eintrag ins Vereinsregister erfolgte im September 1935. Er war wie seine Vorgängerinnen in Hamburg das einzige Forum, in dem jüdische Künstlerinnen und Künstler ihren Beruf vor einem ausschließlich jüdischen Publikum ausüben konnten. Ferdinand Gowa führte weiterhin die Geschäfte, während man Hans Buxbaum, vormals Oberspielleiter am Schauspiel in Bochum, die Leitung der Kulturbundbühne übertrug. Unter seiner Regie fand im September 1935 auch die Eröffnungspremiere statt: „Jaakobs Traum“ von Richard Beer-Hofmann. Der Conventgarten, ein wegen seiner Akustik gerühmtes, im Zweiten Weltkrieg zerstörtes Konzerthaus Ecke Fuhlentwiete/ Kaiser-Wilhelm-Straße, bot Platz für knapp 2.000 Besucher und war der ideale Ort für ein solches Monumentaldrama. Anny Gowa zeichnete für das Bühnenbild verantwortlich, die Kostüme entwarf ihre Kollegin Käte Friedheim. In den folgenden drei Spielzeiten war Anny Gowa an 12 der 26 Schauspiel-Inszenierungen mit Entwürfen und Malarbeiten beteiligt. Anfang 1939 wurde der Hamburger Kulturbund als Zweigstelle in die Einheitsorganisation Jüdischer Kulturbund in Deutschland e.V. eingegliedert. Im Sommer 1939 emigrierten Anny und Ferdinand Gowa über Schweden in die USA. Während ihr Mann an den Universitäten von Pittsburgh und Nashville, Tennessee Germanistik unterrichtete, war Anny Gowa zeitweise als Dekorateurin für das Design von Kaufhäusern verantwortlich. Ferdinand Gowa starb 1972. Anny Gowa überlebte ihren Mann um 25 Jahre; sie wurde 91 Jahre alt. Leopold Sachse lehrte neben seiner Regietätigkeit an verschiedenen Hochschulen in New York, Philadelphia und Pittsburgh. 1945 übernahm er für weitere zehn Jahre Aufträge an der New Yorker City Center Opera. Unmittelbar nach Kriegsende war es seinem ganz persönlichen Einsatz zu verdanken, dass der Künstlerverband American Guild of Musical Artists (AGMA) die Hamburgische Staatsoper „adoptierte“ und sie in einer großangelegten Hilfsaktion mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Instrumenten versorgte. Leopold Sachse starb 1961 mit 81 Jahren in Englewood Cliffs, New Jersey.

Auswahlbibliografie


Schreiben von Leopold Sachse an Anny Gowa, Hamburg, 12.7.1934, veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte.
Barbara Müller-Wesemann, Theater als geistiger Widerstand. Der Jüdische Kulturbund in Hamburg 1934-1941, Stuttgart 1996.

Zur Autorin

Barbara Müller-Wesemann, Dr. phil., war bis 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Theaterforschung und Dozentin am Institut für Germanistik II der Universität Hamburg. Sie war Mitbegründerin des Nachwuchsregie-Festivals Die Wüste lebt (1996 – 2002) und konzipierte das Körber Studio Junge Regie, das sie seit seinem Beginn 2003 auch mitorganisiert. Veröffentlichungen: Marketing am Theater (1991); Theater als geistiger Widerstand. Der Jüdische Kulturbund in Hamburg 1934 bis 1971 (1997); diverse Aufsätze zu jüdischen Künstlern und zur Hamburger Theatergeschichte.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Barbara Müller-Wesemann, „Vorausgesetzt, daß wir nicht vorher am Warten ‚eingehen‘“. Annäherung an einen Brief und sein Rätsel., in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte. <https://schluesseldokumente.net/beitrag/jgo:article-294> [27.04.2024].