Auf dem Schiff
„wie auf einer anderen Erde“
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Die Hamburger Landungsbrücken, die den Blick auf die aus- und einfahrenden Schiffe frei geben, waren schon immer ein Ort, an dem sich die Menschen ihren maritimen Fantasien und Sehnsüchten, aber auch ihren Ängsten und Gefühlen der Ungewissheit hingaben. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 potenzierten sich diese positiven wie negativen Imaginationen des Maritimen für viele deutsche Jüdinnen und Juden, da die Schiffe nicht mehr nur zu Symbolen der Freiheit avancierten, sondern auch zu unerreichten Sehnsuchtsräumen wurden.

Die sechste Online-Ausstellung der Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte rückt daher das Schiff und die Erfahrungen von drei Hamburger Persönlichkeiten mit diesem maritimen Raum in den Mittelpunkt. Dank bisher unveröffentlichter Quellen von Joseph Carlebach, Ida Dehmel und Ernst Heymann – einem Rabbiner, einer Kunstförderin und einem Kaufmann – können drei Ideen- und Gefühlswelten während der NS-Zeit sichtbar gemacht und die Zerrissenheit der Protagonisten zwischen Vergnügen und Betroffenheit, Freude und Verzweiflung, Entdeckergeist und Furcht vor dem ,Fremden‘ aufgezeigt werden.

Die Ausstellung gibt damit neue Blicke – sozusagen vom Schiff aus – auf die Zeit des Nationalsozialismus frei und vergegenwärtigt aus einer individuellen Perspektive heraus die zerstörerische Kraft des NS-Gedankengutes sowie die enorme Widerstandskraft des Einzelnen.

In sechs vertikal angeordneten Kapiteln greift die Ausstellung Aspekte des Maritimen heraus und verortet diese im allgemeinen, historischen Kontext. Den individuellen Erfahrungen hingegen wird auf den horizontalen Stationen nachgegangen. Zusammen wird damit das Leben an Bord – „wie auf einer anderen Erde“ (Ida Dehmel) – sichtbar und das Schiff als besonderer Raum erfahrbar.

Björn Siegel und Sonja Dickow konzipierten die Ausstellung. Die Texte wurden von Björn Siegel, Carolin Vogel, Sonja Dickow und Pia Dreßler verfasst. Die technische Umsetzung erfolgte durch Daniel Burckhardt.

Drei Hamburger Persönlichkeiten in der NS-Zeit

Die drei Biografien verdeutlichen, wie unterschiedlich der Aufstieg des Nationalsozialismus in der Hansestadt wahrgenommen wurde und wie zentral die persönliche Geschichte, die Herkunft und die Erfahrungen mit dem sich etablierenden NS-Regime waren, um die Frage des ‚Gehen oder Bleibens’ zu beantworten.

Die zunehmende Gleichschaltung der Stadtgesellschaft, die zum Beispiel 1934 beim Besuch von Adolf Hitler in Hamburg sichtbar wurde, die Formierung einer sogenannten arischen Volksgemeinschaft und die Diffamierung und Entrechtung der deutschen Jüdinnen und Juden in der Hansestadt wie im Reichsgebiet veränderten das Leben der drei Hamburger Persönlichkeiten.

Die staatlichen Boykotte jüdischer Geschäfte, wie beispielsweise am 1.4.1933, der Ausschluss von sogenannten Nicht-Ariern aus vielen Berufsfeldern und der salonfähig gemachte, rassisch begründete Antisemitismus, der zur Staatsdoktrin erhoben wurde, veranlassten viele deutsche Jüdinnen und Juden zur Auswanderung. Andere hingegen hofften auf eine politische Veränderung bzw. eine Abschwächung der NS-Politik. Nach der Verkündung der Nürnberger Gesetze vom 15.9.1935, die die deutschen Jüdinnen und Juden zu Staatsangehörigen mit einem minderen Rechtsstatus herabstuften, gingen viele den Weg ins Exil.

Auch Joseph Carlebach, Ida Dehmel und Ernst Heymann entschieden sich, Deutschland (zeitweise) zu verlassen. Bis zum Verbot der Auswanderung im Oktober 1941 verließen ca. 10.000 bis 12.000 Hamburger Jüdinnen und Juden die Hansestadt und flüchteten ins Exil.

Joseph Carlebach und sein jüngster Sohn, Solomon.
Ehrengäste zur Amtseinführung von Oberrabbiner Joseph Carlebach in der Hamburger Bornplatzsynagoge, 1936.

Joseph Carlebach – orthodoxer Rabbiner, Pädagoge und Gelehrter

„Die Predigt ward die große Trösterin des jüdischen Volkes [...].“ (J. Carlebach, 1934)

Joseph Carlebach, geboren am 30.1.1883, studierte an den Universitäten von Berlin, Leipzig und Heidelberg (Promotion 1909) sowie am orthodoxen Rabbinerseminar (Berlin) und übernahm 1925 nach einem kurzen Intermezzo in der Jüdischen Gemeinde zu Lübeck das Oberrabbinat der Hochdeutschen Israelitischen Gemeinde in Altona bzw. 1936 das Oberrabbinat der Deutsch-Israelitischen Gemeinde von Hamburg.

Zusammen mit seiner Frau Helene Charlotte (Lotte) Carlebach (geb. Preuss, Heirat 1919) bildete das Carlebach’sche Haus in Hamburg ein geistiges und soziales Zentrum der Jüdischen Gemeinde. Dabei war Carlebach fest in der deutschen Kultur und Gesellschaft verwurzelt und hoffte, die jüdische Orthodoxie und das Studium der Thora mit moderner Wissenschaft und zeitgemäßer Bildung zu vereinen.

Nach 1933 versuchte er, als Seelsorger und Pädagoge dem NS-Regime entgegenzuwirken. Als er 1934 eine Einladung zur Jungfernfahrt des Schiffes Tel Aviv von Hamburg nach Haifa erhielt, hatte er Zweifel, ob er seine Gemeinde zeitweise ohne Beistand lassen könne. Dennoch entschied er sich für die Teilnahme, die ihn 1935 ins Mandatsgebiet Palästina und wieder zurückführen sollte.
In Briefen und Kurztexten, die im Leo Baeck Institute New York aufbewahrt werden, versuchte er aber, den Kontakt in die Heimat zu halten.

Quelle: Joseph Carlebach Institut.
Quelle: Titelblatt eines Reiseprospekts, 1933, Dehmelhaus Stiftung.

Ida Dehmel – Kulturschaffende, Wohltäterin und politisch Engagierte

„Ich habe keinen Anlass u. auch keine Berechtigung den Namen Dehmel jetzt zu verstecken.“ (I. Dehmel, 1933)

Ida Dehmel, geboren am 14.1.1870, war als Kunstförderin, Frauenrechtlerin und Frau des Dichters Richard Dehmel eine bekannte Persönlichkeit. 1901 ließ sie sich in Blankenese nieder. Ihr Haus wurde Treffpunkt bedeutender Künstler, Musiker und Schriftsteller. Nach dem Tod ihres Mannes 1920 machte Ida Dehmel es als Dehmelhaus zum Erinnerungsort. 1926 gründete sie den Künstlerinnenverband GEDOK, der bald 7.000 Mitglieder zählte.

Wenngleich Ida Dehmel die jüdische Religion nicht praktizierte und dem christlichen Glauben nahestand, beschäftigte sie das Jüdisch-Sein immer wieder. Aufgrund jüdischer Herkunft wurde sie im Nationalsozialismus zunehmend aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Trotz der Bedrohung kam Emigration für sie nicht in Betracht.

Zwischen 1933 und 1938 unternahm Ida Dehmel mehrere Reisen auf Vergnügungsdampfern der Hamburg-Amerika Linie HAPAG. Sie reiste durch das Mittelmeer und um die Welt und suchte Ablenkung. Stets kehrte sie gestärkt ins Dehmelhaus zurück – Sinnbild ihres Glücks vergangener Tage. Aufzeichnungen und Briefe sind im Dehmel-Archiv in Hamburg überliefert.

Quelle: Ida Dehmel um 1930, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg.

Ernst Heymann – Kaufmann, Reisender und Hamburger

„(…) da ich ihm dann gestand, dass ich Gerber wäre, zog er vor, von den Ledertaschen abzulassen, und kehrte wieder zu seinen Stickereien zurück.“ (E. Heymann, 1941)

Ernst Heymann kam am 22.2.1885 als drittes Kind einer jüdischen Familie im katholisch geprägten Dülmen nahe Münster auf die Welt. Seine Familie besaß die Lohgerberei Heymann, die 1840 von Ernsts Großvater Salomon gegründet worden war. Von 1899 bis 1907 verbrachte Ernst Heymann seine Lehrjahre in Wolfenbüttel und Leipzig. 1919 zog er nach Elmshorn, wo er die Rechtsgeschäfte einer Lederfabrik betreute.

Drei Jahre später ging Ernst Heymann nach Hamburg, wo er zunächst in der Osterstraße, dann in der Hagedornstraße 22 wohnte. 1925 gründete er zusammen mit seinem Bruder Paul die Lederfabrik S. Heymann in Elmshorn, die beiden Wohlstand einbrachte.

Trotz der nationalsozialistischen Machtübernahme im Jahr 1933 hielt Ernst Heymann an seinem Leben in Hamburg fest. Mit der Hoffnung auf Normalität ging er mit seiner Ehefrau Helene (geb. Werner) 1937 an Bord eines Passagierschiffes und unternahm eine Weltreise. Der Wunsch nach Normalität fand aber ein jähes Ende. Nach der Rückkehr von der Weltreise wurde die Firma Lederfabrik S. Heymann ,arisiert‘ (Dezember 1938) und von den Lederwerken Johann Knecht & Söhne übernommen. Aufgrund der Verfolgung und Ausplünderung durch das NS-Regime entschloss sich das Ehepaar Heymann 1941 zur Flucht aus Deutschland.

Während der komplizierten Auswanderung führte Ernst Heymann das „Reisetagebuch eines Emigranten“. Das Typoskript von 1941 wie auch der handschriftliche Reisebericht von 1937 werden im Archiv des IGdJ aufbewahrt.

Quelle: Ernst Heymann, undatiert / Helene Heymann, undatiert / Titelseite von Ernst Heymanns „Reisetagebuch eines Emigranten“, 1941. Archiv des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden.

Ins Ungewisse

Aufgrund der sich verschärfenden Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes waren viele deutsche Jüdinnen und Juden zutiefst verunsichert. Während einige die nationalsozialistische Diktatur als eine Episode in der deutschen Geschichte ansahen und ausharrten, flüchteten andere trotz der bürokratischen Hürden und den Ausplünderungsmaßnahmen des Regimes sowie einem möglichen gesellschaftlichen und sozialen Abstieg im Ausland aus ihrer Heimat.

Hin- und hergerissen zwischen den Optionen des ‚Gehen oder Bleibens’ waren Reisen eine willkommene Option zur Entspannung und kurzzeitigen Flucht aus der bedrückenden Realität des NS-Staates, aber auch eine Chance zur Auslotung eventueller Immigrationsmöglichkeiten in andere Länder. Vor allem diejenigen, die sich nach 1933 dank eigener finanzieller Ressourcen Reisen noch leisten konnten, unternahmen Fahrten ins europäische, aber auch außer-europäische Ausland – eine in der Forschung oft übersehene Realität.

Dabei unterlagen Reisen einer immer stärkeren Regulierung: Einerseits verlangte das NS-Regime trotz des Zieles der Förderung jüdischer Auswanderung (bis 1941) umfangreiche Garantien von jüdischen Reisenden, die eine Unterwanderung der NS-Ausplünderungsmaßnahmen verhindern sollten. Andererseits schlossen viele Länder ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge bzw. verschärften die Einreiseformalitäten, um illegale Einwanderungen zu unterbinden.

Bis 1941 reisten noch etliche Jüdinnen und Juden ins Ausland; einige in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in einem anderen Land, andere im Glauben dem Terror des NS-Regimes kurzzeitig entkommen zu können. Für viele war es eine Reise ins völlige Ungewisse.

Kabinenticket von Joseph Carlebach.
Speisesaal an Bord der Tel Aviv.

Auf dem „jüdischen Schiff“: Joseph Carlebachs Fahrt nach Palästina

Bereits 1934 hatte Arnold Bernstein, einer der einflussreichsten, jüdischen Hamburger Reeder, Joseph Carlebach, den bekannten orthodoxen Oberrabbiner von Altona, wie auch Leo Baeck, den berühmten liberalen Rabbiner und Vorsitzenden der Reichsvertretung der deutschen Juden sowie Otto Warburg, den Ehrenpräsident der Zionistischen Weltorganisation, und andere hochrangige jüdische Vertreter eingeladen, an der Jungfernfahrt der Hohenstein/Tel Aviv von Hamburg über Genua nach Haifa teilzunehmen.

Die erste Werbe- und Propagandafahrt des Dampfers, der „hell und schmuck, in schneeweißer Jungfräulichkeit“ noch unter deutscher Flagge sowie dem „blauweißen Palästina-Wimpel“ im Hamburger Hafen lag und zur „neuen und ersten rein-jüdischen Palästina-Reederei“, der Bernstein’schen Palestine Shipping Company Ltd. gehörte, wurde zu einem ganz besonderen Ereignis. Das „jüdische Schiff“, wie es zum Beispiel die zionistische Zeitung Jüdische Rundschau beschrieb, war ein Hoffnungsschimmer für viele deutsche Jüdinnen und Juden, die dem NS-Regime entkommen wollten. Am 26.1.1935 wurde es daher – auch aufgrund der Teilnahme von Joseph Carlebach – von der Jüdischen Gemeinde Hamburgs mit großem Jubel verabschiedet.

Quelle: Leo Baeck Institute New York, Carlebach-Family Collection / The Central Zionist Archives, AK 639-2_3p / Joseph Carlebach Institut.
„Die Zeitungen waren voll gewesen von der Kunde des ‚jüdischen Schiffes’. Phantastische Vorstellungen hatten sich verbreitet.“ (J. Carlebach, 1935)
Joseph Carlebach als Schiffsreisender, zusammen mit Otto Warburg (Mitte) und Dr. Schlossberg (rechts), 1935.

Aufbruch in neues Weltgebiet – Ida Dehmel geht auf Kreuzfahrt

„Ich versuche alles außer dem Meer und der Sonne und dem Himmel zu vergessen. Ich habe auch nette Gesellschaft. Wir sprechen prinzipiell nur Harmloses.“ (I. Dehmel, 1933)

Ein Gutschein der Hamburg-Amerika Linie HAPAG ermöglichte Ida Dehmel, ihren schon länger gehegten Wunsch einer Seereise zu verwirklichen. Im Januar 1933 buchte sie eine Fahrkarte für die Pfingst-Mittelmeerfahrt des Erholungsreisen-Dampfers Oceana. Kurz nachdem sie den Vorsitz der Künstlerinnenvereinigung GEDOK niederlegen musste, machte sich die Witwe allein auf den Weg. Am 23. Mai stach die Oceana ab Genua in See. Neben Vergnügen versprach die Schiffsreise nun auch Abstand von den Ereignissen in Hamburg.

1935 starb Ida Dehmels engste Vertraute und Schwester Alice Bensheimer. Der Verlust wog schwer. Zugleich nahm die Einschränkung der persönlichen Freiheit zu und die Welt der Kunst veränderte sich. Dank einer Erbschaft konnte Ida Dehmel sich ihrer Situation nun für viele Monate entziehen.

Für den Herbst 1935 buchte sie die große HAPAG Orient-Fahrt und eine Fahrt durch das westliche Mittelmeer mit der Milwaukee. Im Januar 1936 ging sie in New York an Bord der Reliance, mit der sie einmal um die ganze Welt fuhr. Im März 1937 reiste sie mit der Caribia nach Mittelamerika und Westindien, 1938 ging es noch einmal mit der Reliance auf Weltreise. Ihre Rückkehr nach Hamburg war immer gewiss.

Quelle: Ida Dehmel (links) und ihre Schwester Alice Bensheimer in Venedig, vor 1935 / Passagierliste für Reiseteilnehmer*innen, 1935. Titelblatt einer Broschüre der HAPAG / Vergnügungsdampfer Oceana der Hamburg Amerika Linie, 1933. Ausschnitt aus einem Werbeprospekt der HAPAG. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg / Dehmelhaus Stiftung
Quelle: Werbung der Reederei Chargeurs Réunis. Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0.

Die Heymanns verlassen Deutschland – Der Anfang einer Emigrationsreise

Helene und Ernst Heymann betraten 1937 das niederländische Schiff MV Marnix van Sint Aldegonde und gingen auf eine mehrmonatige Weltreise. Während sie damit dem NS-Terror kurzfristig entfliehen konnten, setzte dieser nach ihrer Rückkehr wieder ein.

Auch deshalb flüchteten Ernst Heymann sowie sein Bruder Paul mit seiner Familie und der Mutter Berta nach Brüssel, noch bevor die Fabrik der Heymanns im Dezember 1938 endgültig ,arisiert‘ wurde. Helene Heymann, die als sogenannte Arierin die finanzielle Situation der Familie noch regeln wollte, folgte erst später. Brüssel blieb aber nur eine Transitstation.

Am 23.5.1941 gingen Helene und Ernst Heymann im Hafen von Marseille an Bord der Cap Varella, ein Schiff der französischen Reederei Chargeurs Réunis. „Die Cap Varella gehört nicht gerade zu den modernsten Schiffen“ hielt Ernst Heymann auf der ersten Seite seines Tagebuchs fest, „ca. 8000 t gross läuft sie ungefähr 11 bis 12 Seemeilen“. Von Marseille ging es nach Algier. Zahlreiche Zwischenstopps folgten. Während Ernst Heymann anfangs noch eine Reisezeit von zweieinhalb Monaten erwartete, dauerte die Fahrt letztendlich sechs Monate. Die Heymanns umrundeten an Bord des Schiffs Afrika und gingen als Emigranten in Manila auf den Philippinen von Bord.

„Im Norden verschwindet die Europäische Küste, und ob wir diesen Erdteil jemals wieder sehen, das wissen die Götter.“ (E. Heymann, 1941)
Quelle: Das Schiff MV Marnix van Sint Aldegonde, mit dem das Ehepaar Heymann 1937 auf Weltreise geht. Nationaal Archief, gemeinfrei.

Auf dem Schiff: Eine Gemeinschaft auf Zeit

Für viele deutsche Jüdinnen und Juden bedeutete das An-Bord-Gehen in Hamburg, aber auch in anderen Häfen Europas, den Beginn einer ganz besonderen Seereise. Nachdem sie den NS-Verfolgungsmaßnahmen z.T. über Jahre ausgesetzt waren, eröffnete der maritime und damit internationale Raum des Schiffes, den zuvor Verfolgten, Entrechteten und Ausgegrenzten wieder Teil einer Gemeinschaft auf Zeit zu werden.

Auf den Schiffen bestanden (noch) andere Trennungslinien, die nicht rassischen Kategorien, sondern den verschiedenen Klassengrenzen folgten. Die jüdischen Reisenden traten damit in einen maritimen Kosmos ein, der – soweit sie sich nicht auf deutschen Schiffen befanden – nicht von den Ideen einer ideologisch durchstrukturierten NS-Volksgemeinschaft beeinflusst war. In internationalen Gewässern konnten sich Joseph Carlebach, Ida Dehmel und Ernst Heymann als Reisende und nicht unbedingt als Juden mit ihren Mitpassagieren und deren Ansichten auseinandersetzen, was für manchen eine Herausforderung darstellte.

Die Realitäten einer modernen Schiffsreise – vor allem in der ersten und zweiten Klasse – waren durch den Anspruch der Reedereien bestimmt, das Schiff zu einem luxuriösen und außergewöhnlichen Ort zu machen. Die Promenadendecks, Ballsäle, Rauchsalons und Suiten sollten den Reisenden einen adäquaten Rahmen geben. Der Kodex der maritimen Welt schien losgelöst von der eigentlichen zeitgenössischen Realität zu sein, die die drei Hamburger Persönlichkeiten über die letzten Jahre erlebt hatten. Dank der eigenen finanziellen Mittel, die sie noch aufbringen konnten, wurden sie daher wieder Teil einer Gemeinschaft auf Zeit.

Carlebachs Erlebnisse auf der Tel Aviv: „man wächst zur Familie zusammen“

„... auf dem Schiff, da wachsen die Menschen wie zu einer Familie zusammen, und ohne es zu wollen, bin ich der rabbinische Hahn im Korbe.“ (J. Carlebach, 1935)

Joseph Carlebach hielt die Hohenstein, die vor Genua zur Tel Aviv umgetauft wurde, für einen ganz besonderen Ort, da auf dem „jüdischen Schiff“ nicht nur eine Thora in der schiffseigenen Synagoge, sondern auch die Versorgung mit ritueller Kost in gesonderten koscheren Speisesälen sowie religiöse Bildungsangebote zur Verfügung standen.

Die von der Reederei angebotenen Konzertabende, Bälle und sonstigen Vergnügungsveranstaltungen, die zum Standard einer jeden Mittelmeer-Reise gehörten, nahm Joseph Carlebach zwar wahr, meinte aber, dass zwei „getrennte Welten, zuweilen scheinbar unvereinbare Gegensätze“ hierbei zutage träten. „Karnevalslustigkeit, Ballfreuden und farbiger Mummenschanz“ und die Absicht die „gestaute Vitalität einmal in Freiheit aus sich herauszuschleudern“ standen dem „Willen zur Besinnlichkeit, zur seelischen Einkehr“ auf dem Weg ins Mandatsgebiet Palästina bzw. nach Eretz Israel – wie Carlebach schrieb – entgegen.

Er versuchte daher auf der Reise von Hamburg nach Haifa in Vorträgen zur jüdischen Religion oder zur Frage „Was ist der Mensch angesichts des großen Meeres“, den Gemeinsinn der zumeist jüdischen Mitreisenden zu wecken und den Glauben der nicht-religiösen Reisenden, die er kritisch als „Trefopassagiere“ bezeichnete, neu zu entfachen.

Quelle: Joseph Carlebach als fesselnder Redner für sämtliche Passagiere / Aquarell der Tel Aviv, Joseph Carlebach Institut / Aus dem Nachlass von Hans Zwi Rosenthal, Archive of the Museum of the German-speaking Jewry – Open Museums, Tefen, Israel.
Quelle: Interieur der Oceana, 1933. Seite aus einem Werbeprospekt der HAPAG / Programmzettel für den Film „Abschiedswalzer“ über Frédéric Chopin. Faltblatt der HAPAG, Dehmelhaus Stiftung.

Luxusdampfer und Geselligkeit – Ida Dehmel macht Ferien

„Das Leben an Bord ist ideal, meine Kabine ein wahrer Salon!“ (I. Dehmel, 1935)

Ida Dehmel genoss das komfortable Leben an Bord der HAPAG-Schiffe. Die Reederei bot ihren Erholungs- und Vergnügungsgästen opulente Speisen, Feste, Konzerte, Bühnen- und Filmvorführungen. Man spielte Bridge, plauderte, ging an Deck spazieren und sonnte sich. Das Ausflugsprogramm versprach interessante Besichtigungen in den Hafenstädten und mehrtägige Reisen ins Landesinnere.

Nach anfänglicher Zurückhaltung suchte Ida Dehmel Kontakt und Gespräche mit Mitreisenden und fand bald Anschluss. „Es wird mir viel wohler. Take it easy.“ schrieb sie an ihre Nichte in Blankenese. Der Name Richard Dehmels war noch immer bekannt. Als seine Witwe erfuhr sie manche Anerkennung, was ihr sehr gefiel. Mitunter nahm sie sogar am Kapitänstisch Platz oder hielt einen Vortrag.

Im Tagebuch ihrer Weltreise mit der Reliance 1936 und an Bord der Caribia 1937 beschreibt sie vor allem die exotischen Ziele, die sie unterwegs besuchte. Sie erzählt auch von Beobachtungen, Begegnungen und Unterhaltungen an Bord, sorgt sich um die Angemessenheit ihrer Abendgarderobe und die Verträglichkeit der Verpflegung. Scheinbar unbeschwert widmen sie und ihre Mitreisenden sich dem Tagesablauf von Urlaubern auf einer Kreuzfahrt.

Quelle: Kostümball an Bord, Ida Dehmel vermutlich mittig in der vorletzen Reihe, undatiert / Ida Dehmels Notizen in der Passagierliste der Oceana 1933. Broschüre der HAPAG, Dehmelhaus Stiftung.

Emigrant und Tourist zugleich: Ernst Heymanns Reise auf der Cap Varella

„Fühlung mit anderen Passagieren haben wir bisher noch nicht genommen. Das kommt noch stärker als einem lieb ist. Ich habe heute schon Angst vor dem Bordklatsch.“ (E. Heymann, 1941)

Die lange und mitunter eintönige Zeit auf dem Schiff ließ die Reisenden auf der Cap Varella schnell für unterschiedliche Aktivitäten zusammenfinden. „Ein grosser Teil der Passagiere sitzt daher von morgens bis spät in die Nacht hinein und Bridgt mit einer Ausdauer, die einer besseren Sache würdig wäre“, notierte Ernst Heymann in sein Reisetagebuch 1941.

Während er und seine Frau den Mitreisenden noch anfangs aus dem Weg gingen, gehörte das Ehepaar Heymann schon bald zum Kern der Reisegesellschaft an Bord. Im Gegensatz zur anfänglichen Absicht, sich im Hintergrund zu halten, nahmen Ernst und Helene Heymann die gesellschaftlichen Verpflichtungen zu verschiedenen Feierlichkeiten immer öfter wahr und wurden dadurch auch Teil des „Klatsch und Tratsch“.

Dabei half es, dass sie weder Deutsche noch andere Emigranten an Bord der Cap Varella antrafen und auch keinen Repressalien oder NS-ideologischem Gedankengut ausgesetzt waren. Das Ehepaar Heymann wurde laut den eigenen Aufzeichnungen als Mitreisende der 1. Klasse wahrgenommen. Sie galten nicht als Verfolgte oder Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen mussten, sondern als Touristen. Doch Ernst Heymann wusste, dass die Reise auf die Philippinen nicht dem Vergnügen diente. Er gestand: „aber letzten Endes ist diese Reise ja kein ganz rein touristisches Unternehmen.“

Quelle: Speisekarte in Ernst Heymanns Reisetagebuch von 1937, Archiv des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden.

Ein maritimer Reflexionsraum: Ein Blick zurück, ein Blick nach vorn

Die Schiffsreisen ermöglichten es nicht nur Zeit mit den Mitreisenden zu verbringen oder sich den vielfältigen Unterhaltungsangeboten an Bord hinzugeben, sondern sich auch der eigenen Lebenssituation zuzuwenden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Verfolgungsgeschichte und dem bereits Erlebten im nationalsozialistischen Deutschland während der Seereise ließ das Schiff zu einem Ort der Reflexion werden.

Denn an Bord konnten Joseph Carlebach, Ida Dehmel und Ernst Heymann, die zugleich Flüchtende, Emigrierende und Reisende waren, weitestgehend frei, über ihr Schicksal nachdenken. Auf dem Schiff konnten sie über die jüngste Veränderung Hamburgs von der internationalen Hafenstadt zur gleichgeschalteten und nationalsozialistisch geprägten „Hauptstadt der deutschen Schiffahrt“ nachsinnen, die Adolf Hitler bei seinem Besuch 1934 auf der Werft Blohm & Voss beschwor. Hier konnten sie sich mit ihren Erinnerungen an die alte Heimatstadt, ihre Familien und Freunde, aber auch mit den Erfahrungen von Antisemitismus und Rassismus von Nachbarn, Kollegen und Mitreisenden auseinandersetzen. An Bord blieb Raum, sich auf die Suche nach Erklärungen für Ausgrenzung und Hass zu machen oder sich in die Vergangenheit wie auch Zukunft zu flüchten, um der Realität zu entfliehen.

Das Schiff, dieser scheinbar neutrale Ort auf hoher See, wurde damit nicht nur Vergnügungs- und Ablenkungsort, sondern auch Reflexionsraum für die Erlebnisse in der Vergangenheit und die Visionen des Einzelnen für die Zukunft. Ein Ort, an dem die Flüchtenden verzweifelt eine Sinnhaftigkeit zu entdecken suchten, die das Ertragen von Ausgrenzung und Verfolgung erleichtern würden.

Joseph Carlebachs historischer Vergleich: Ein Blick in die Geschichte

„Die Thora, die im kostbar verhängtem Schrein, auf einem Schiff etlichen hundert jüdischen Wanderern den Weg weist nach Erez Israel – in der Tat: das ist oder vielmehr, das war ein Erlebnis, würdig der Erinnerung kommender Geschlechter.“ (Israelitisches Familienblatt, 1935)

Im Jahr 1935 reflektierte Joseph Carlebach an Bord der Tel Aviv über die zeitgenössische Realität im nationalsozialistischen Deutschland und diskutierte diese mit den jüdischen Mitpassagieren. In seinen Überlegungen verglich er die Lage des deutschen Judentums nach 1933 mit der Situation der Juden am Vorabend der sogenannten Reconquista der spanischen Peninsula durch Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien, die in der Vertreibung der Juden (und Muslime) aus Spanien 1492 endete.

Trotz des Exodus war sein Fazit ein hoffnungsvolles, da er die jüdischen Flüchtlinge aus Spanien als „fürstliche Bettler“ betitelte, denen die Thora „voran schritt – Königin Sabbath.“ Seine Ausführungen verdeutlichen, wie stark Carlebach die Geschichte zur Bewältigung der Gegenwart heranzog und im Glauben eine Kraft zur Überwindung von Verfolgung und Ausgrenzung auch im Jahr 1935 sah.

In Texten und Briefen schrieb er daher seine Grundgedanken auch für die daheimgebliebenen Familienangehörigen nieder, um sie an seiner Reise und Gedanken teilhaben und ihnen Hoffnung zukommen zu lassen. Die Briefe waren das Band zur Familie und Gemeinde in Hamburg, das er nicht zerreißen lassen wollte, denn eine Rückkehr nach Deutschland stand für ihn trotz der nationalsozialistischen Verfolgungen außer Frage.

Quelle: Synagoge an Bord der Tel Aviv / Abbildung in „Besinnliche Fahrt ins Land der Juden. Reisebriefe unserer mit der ,Tel Aviv' nach Palästina entsandten Sonderberichterstatterin Doris Wittner“, Israelitisches Familienblatt, Nr. 9 (25.2.1935), The Central Zionist Archives, AK 639-2_5p / Leo Baeck Institute New York, Carlebach-Family Collection.
„7 Wochen lang hat niemand etwas von meinem Geburtsfehler gemerkt.“ (I. Dehmel, 1937)
Quelle: Landausflug in Ägypten, Ida Dehmel auf einem Kamel (ganz links), 1935, Dehmelhaus Stiftung.

Fern von Deutschland – Ida Dehmel gehört dazu

Seereisen bedeuteten für Ida Dehmel vor allem Distanz und Ablenkung von der bedrückenden Situation in Deutschland. „Man will ja das ganze Europa hinter sich lassen, man will neugeboren werden.“ schrieb sie zur Abreise in Hamburg 1935.

Anstatt sich über Vergangenes oder Künftiges zu sorgen, war Ida Dehmel wild entschlossen, alle Schönheiten des Reisens zu genießen. Ihre Aufzeichnungen sind als Lektüre für Freunde und Familie geschrieben, die an den Reiseerlebnissen teilhaben sollten. Rückblicke erlaubt sie sich nur, um an ihren verstorbenen Mann und Sohn zu denken, Erinnerungen an Stefan George zu ordnen und ein Wiedersehen mit Karl Wolfskehl festzuhalten.

1935 berichtete sie, „jeder Kapitän werde von der Direktion verpflichtet kein politisches Wort, nicht einmal den Gruß zu äußern.“ Während sie 1936 auf der Reliance keinen Antisemitismus feststellte, traf sie 1937 in Costa Rica auf „Anhänger des dritten Reiches“. Sie dachte über das Deutsch-Sein nach, das tief im Blut liege und nicht von einer Regierungsform abhängig sei. 1938 schrieb sie aus Neapel „Leider kaufte ich heute deutsche Zeitung – man muss hier zeitlos leben.“ Auch Briefe, die sie unterwegs erhielt, erinnerten an zuhause.

Quelle: Seite aus Ida Dehmels Reisetagebuch „An Bord der Reliance“, 1936 / Die australische Zeitung The Sun meldet Ida Dehmels Ankunft am 1.4.1938, Dehmelhaus Stiftung / National Library of Australia, "RELIANCE COMES TO SYDNEY" The Sun (Sydney, NSW : 1910 - 1954) 1 April 1938: 11 (LATE FINAL EXTRA). Web. 24 Mrz 2020, nla.gov.au/nla.news-article229878107.
Quelle: Seite aus Ernst Heymanns Reisetagebuch von 1937, Archiv des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden.

Heymanns Überlegungen auf hoher See – Fokussierungen auf das ‚Hier und Jetzt‘

„Mir persönlich wären auch 4 oder 5 Meilen genug, und ich sehe dem Tag mit Schrecken entgegen, an dem die Fahrt zu Ende geht.“ (E. Heymann, 1941)

In seinem Reisetagebuch offenbarte Ernst Heymann nur selten seine innersten Gefühle und setzte sich nur indirekt mit der eigenen Emigrationssituation auseinander. Seine letzten Einträge verdeutlichen aber, dass er Angst davor hatte, sich eine neue Existenz in einem fremden Land aufbauen zu müssen: Je näher das Schiff dem Ziel kam, desto mehr wünschte er sich, auf einer endlosen Weiterfahrt zu sein.

In seinem Tagebuch hielt er sich bewusst zurück, hatte er sich doch vorgenommen, „in diesen Aufzeichnungen nicht von Politik und von Krieg zu sprechen […]“. Vielmehr galt sein Interesse den Beziehungen innerhalb der Reisegesellschaft und den besonderen Situationen auf dem Schiff.

Während er mit Freude feststellte, dass auf der Cap Varella „eine scharfe Trennung nicht vorgenommen“ wurde, schien es dennoch unsichtbare Grenzen zwischen den unterschiedlich situierten Mitreisenden zu geben. Bei einer Tanzveranstaltung stellte er fest: „[D]ie erste und zweite Klasse hätte, glaube ich, am liebsten mitgemacht, was sich aber mit der Würde nicht vertragen hätte.“

Die Auseinandersetzungen mit dem ‚Hier und Jetzt‘, die ihn von seiner Lebenslage ablenkten, waren Heymanns Strategie zur Bewältigung der eigenen Verfolgungssituation.

Andere Länder, andere Sitten

Auf den zumeist mehrwöchigen Seereisen liefen die Schiffe auch Häfen an, die als interessante Stationen der Reise wahrgenommen wurden. Die drei Hamburger Persönlichkeiten lernten damit nicht nur das Schiff bzw. das Meer kennen, sondern auch die verschiedenen Kulturen der unterschiedlichen Hafenstädte und ihrer Bevölkerungen. Neben der Auseinandersetzung mit der eigenen Verfolgungssituation waren diese Begegnungen in den unterschiedlichsten europäischen, aber auch außer-europäischen Hafenstädten eine willkommene Abwechslung für die Schiffsgesellschaften.

In den Häfen begegneten Joseph Carlebach, Ida Dehmel und Ernst Heymann Menschen, deren Aussehen, Sprachen und Riten in den Augen der europäischen Reisenden etwas Fremdes und Neues innewohnte. Diese Erfahrungen ließen die Realität als Flüchtende und Emigrierende oft in den Hintergrund rücken und machten die drei Hamburger Persönlichkeiten – zum Teil unvermittelt – zu Entdeckerinnen und Entdeckern anderer Welten und Kulturen.

In den Vorstellungen und wertenden Perspektiven, die sie mit im geistigen Gepäck hatten, spiegelte sich auch das eigene kulturelle Erbe wider. Neben ihren bildungsbürgerlichen Vorstellungen, die sie zu Besuchen von weltberühmten Orten und Kulturstätten veranlassten, war es auch ihr zum Teil ethnografisches Interesse an dem ,Fremden‘ und Besonderen – hier vor allem in Afrika und Asien –, das sie antrieb und sie immer wieder in die Begegnung führte.

Quelle: Joseph Carlebach an Bord der Tel Aviv, Januar 1935, Joseph Carlebach Institut.

Zwischen Marokko und Palästina: Carlebachs Begegnungen mit dem ,Fremden‘

Die Jungfernfahrt der Tel Aviv führte Joseph Carlebach unter anderem nach Antwerpen, Lissabon und Casablanca, wo er mit Vertretern der Jüdischen Gemeinden zusammentraf. Besonders in Casablanca konnte er seine Enttäuschung über die dortigen Zustände kaum verbergen. In seinen Beobachtungen, die er an Bord niederschrieb, stellte er fest, dass neben einer fehlenden geistigen Vitalität, auch „selbst angesichts der Bedürfnislosigkeit des Orients – [eine] beispiellose Armut und Verelendung“ vorherrschen würden und Hygiene „ein hierzulande unbekannter Begriff“ sei.

Im Gegensatz zu seinem kritischen Blick auf die Jüdischen Gemeinden in Nordafrika, Süditalien und Griechenland, die er auf seiner Reise besuchte, hielt er Palästina, welches er nach der Ankunft der Tel Aviv in Haifa betrat, für „kein beliebiges Kolonialland“, sondern für eine lebendig gewordene Vergangenheit. Wie „trunken“ reiste er durch Palästina und hielt „das Wunder von der Verjüngung des uralten Landes“ nur im Zusammenspiel mit der jüdischen Religion für möglich – wie er es bereits an Bord der Tel Aviv gepredigt hatte.

Auf seiner Reise durch Palästina warb er für das Zusammenspiel von Alt und Neu, besuchte Freunde aus Deutschland, die bereits nach Palästina ausgewandert waren, und suchte Kontakte zum Oberrabbinat des Landes, um die religiöse Verbindung zu stärken.

„Die Landschaften und Menschen, das Alte und das Neue, alles ist gleich herzbezwingend.“ (J. Carlebach, 1935)
Quelle: Der Oberrabbiner Moshe Elyakim von Casablanca und Begleiter kommen an Bord der Tel Aviv, um Joseph Carlebach zu begrüßen, Joseph Carlebach Institut.
„Für mich gibt es nur noch den Wunsch, mich der Schönheit und Größe der Welt hinzugeben.“ (I. Dehmel, 1936)
Quelle: Titelblatt einer Speisekarte der Oceana, 1933. Gedruckte Klappkarte der HAPAG, Dehmelhaus Stiftung.

Vom Überfluss der Welt – Ida Dehmel als Entdeckerin

Fremde Länder kennenzulernen und bedeutende Stätten zu besichtigen war neben der Erholung auf See der vorranginge Zweck der Kreuzfahrten, die Ida Dehmel buchte. Alle Orte besuchte sie mit dem interessierten Blick einer gebildeten Touristin. Sie war nicht auf der Suche nach einer neuen Heimat oder einem sicheren Platz in der Welt, sondern nach neuen Erfahrungen.

Ihre schönsten Erlebnisse, interessante Beobachtungen und Begegnungen, aber auch Enttäuschungen hielt sie in literarisch anmutenden Beschreibungen fest. Mal war sie vor Begeisterung hingerissen, wie auf der Karibikinsel Trinidad, im Indischen Ozean und in der Seilbahn auf den Tafelberg. Andernorts zeigte sie sich enttäuscht, New York fand sie „furchtbar wie alle Großstädte“, Singapur konturlos, Hongkong und die Verbotene Stadt hingegen fantastisch. Einheimische beobachtete sie mit Interesse, bewunderte Trachten und vornehmes Auftreten, zeigte sich befremdet von „Negern“, „schauderhaften Krüppel-Bettlern“ und grellen Amerikanerinnen. Ida Dehmel war froh, deutsch zu sein.

Die stärksten Eindrücke ihrer Reisen blieben der Urwald, die üppige, farbenfrohe Pflanzenwelt und die Erkenntnis, wie sehr sie es liebte, auf dem Meer zu sein.

Quelle: Ida Dehmel beim Landausflug auf der Isle of Wright, Großbritannien, 1933 / Reise über das Meer zu den Schönheiten ferner Ländern, 1935. Ausschnitt aus einem Reiseprospekt der HAPAG / Exotische Pflanzenwelt auf Madeira, 1933, Dehmelhaus Stiftung.
Quelle: Leo Wehrli: Alger, Gasse der Kasbah mit Minaret, 1935. Kolorierung des Dias durch Margrit Wehrli-Frey, ETH-Bibliothek_Dia_247-08079.

Heymanns Reise: Ein europäischer Beobachter in den Kolonien Frankreichs

Mit der Cap Varella erreichten Helene und Ernst Heymann die unterschiedlichsten Orte. Die Reiseroute führte sie von Marseille nach Nord- und Westafrika über Madagaskar und Vietnam, bis nach Manila. Das starke Interesse an anderen für die Heymanns fremden Kulturen hatte sich schon während der Reise des Paares im Jahr 1937 bemerkbar gemacht. Während der Flucht 1941 griff Ernst Heymann auf seine Erfahrungen aus der vorherigen Reise zurück und versuchte diese zu vertiefen, wie zum Beispiel an ,authentischen‘ Orten. In Algier notierte er: „Nach Tisch ging ich dann allein zur Stadt, um einen Bummel durch die Kasbah, das Araberviertel zu machen“.

Während Heymann oft von Bord ging und stets offen gegenüber ,fremden‘ Kulturen war, verlor er doch nie den Blick des Europäers, der die indigene Bevölkerung der Länder Afrikas als besonders ‚wild’ und ‚unzivilisiert’ wahrnahm. In Dakar beschrieb Heymann die „erbärmliche[n] primitive[n] Behausungen, wo Neger sogar noch unter Strohdächern hausen, wie im Kral“.

Gleichzeitig sann er aber auch seiner eurozentristischen Denkweise nach, kritisierte besonders die Kolonialmacht Frankreich, die er für viele Missstände verantwortlich machte und zweifelte an der Idee einer Überlegenheit der Europäer.

„Nach meiner Ansicht sind heute die wildesten Völker nicht so gefährlich wie die Kulturstaaten mit ihren An- und Abmeldungen, Aufenthaltserlaubnis, Sauf conduit und was es dergleichen noch schönes giebt. Mit diesen Formularen kann man die Menschen noch stärker quälen, als wenn man sie tot shlägt [sic!].“ (E. Heymann, 1941)
Quelle: Leo Wehrli: Dakar, Molo, 1938. Glasdiapositiv, ETH-Bibliothek_Dia_247-11182.

Des Reisens Ende: Eine schwierige Ankunft

Die Erfahrungen der langen Schiffsreise beeinflussten alle drei Hamburger Persönlichkeiten. Die Zeit auf See hatten sie dazu genutzt, sich mit dem eigenen Schicksal auseinanderzusetzen, sich mit touristischen Erlebnissen abzulenken und in Diskussionen sich das Ankommen vorzustellen. Während es für die einen das Erreichen eines neuen Landes bedeutete, war es für andere ein Zurückkommen in die alte Heimat. Angekommen, mussten sie sich verschiedensten Fragen stellen: Wie würde sich das Leben in der alten oder neuen Heimat weiter entwickeln? Was erwartete Sie? Und wie würden sie die Erlebnisse verarbeiten können?

Trotz der unterschiedlichen Zeiten und Motive waren die Schiffsreisen Momente, die Joseph Carlebach, Ida Dehmel und Ernst Heymann aus dem bedrückenden Alltag im nationalsozialistischen Hamburg kurzfristig herausführten. Die Erfahrungen von Verfolgung und Entrechtung rückten dabei in den Hintergrund. Ohne das Wissen um die Schoah verließen sie ihr Schiff, ihr Leben „wie auf einer anderen Erde“, und traten den weiteren Lebensweg an.

Zwei der drei, Ida Dehmel und Joseph Carlebach, kehrten ins nationalsozialistische Deutschland zurück. Ernst Heymann hingegen flüchtete 1941 ins Exil und kam in einer neuen Heimat bzw. in der Transitstation auf den Philippinen an. Die Zeit auf dem Schiff blieb für alle drei eine ganz besondere.

Carlebachs Rückkehr ins Grauen

„Wenn unsere Zeit im Judentum eine schwere und ernste ist, eins haben wir aus dieser Not gelernt: den Wert der Gemeinschaft.“ (J. Carlebach, 1936)

Nach seiner Rückkehr ins nationalsozialistische Deutschland berichtete Joseph Carlebach der Gemeinde von seiner Reise und dem neu entstehenden jüdischen Leben in Eretz Israel. Als Vertreter der Jüdischen Gemeinde Hamburgs, dessen Oberrabbiner er 1936 wurde, hielt er seine Erlebnisse auf dem Schiff und in Palästina für einen Schatz in Zeiten wachsender Ausgrenzung und Verfolgung.

Die Deportationen im Zuge der sogenannten Polenaktion 1938 und die Zerstörung der Bornplatzsynagoge während des Novemberpogroms im gleichen Jahr führten Joseph Carlebach die Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit des NS-Regimes deutlich vor Augen. Fünf seiner Kinder schickte er daher ins Ausland (eines ins Mandatsgebiet Palästina und vier nach Großbritannien). Carlebach, der neben seiner Reise nach Palästina 1935, Möglichkeiten zur Emigration gehabt hätte, fühlte sich seiner Gemeinde verpflichtet und arbeitete bis zuletzt für die Linderung der Nöte vor Ort.

„Wir stehen im Begriff, nach Osten zu fahren. Wir wollen Euch noch einmal ein herzliches Lebewohl sagen“, schrieb Carlebach 1941 seinem Onkel in Antwerpen. Am 6.12.1941 wurde er zusammen mit seiner Frau Charlotte und vier seiner Kinder ins Konzentrationslager Jungfernhof bei Riga deportiert, wo sie am 26.3.1942 ermordet wurden.

Quelle: Stolperstein für Dr. Joseph Carlebach, Grindelhof 30 (ehemalige Talmud Tora Schule, jetzt Joseph Carlebach-Bildungshaus) / Stolperstein für Charlotte Carlebach (geborene Preuss), Hallerstraße 76, Institut für die Geschichte der deutschen Juden.

Zurück in Blankenese – Ida Dehmel kehrt heim

„Das Schweben zwischen Meer und Himmel ist etwas anderes, es ist das Losgelöstsein von aller Erdenschwere.“ (I. Dehmel, 1937)

Noch in Reisestimmung und voller schöner Erinnerungen nahm Ida Dehmel ihr Leben im Dehmelhaus wieder auf. Sie wollte das Haus und ihr Archiv nicht einfach dem Schicksal überlassen. Hier war sie zuhause, für dieses Land waren Mann und Sohn gestorben. Sie tippte die Reisetagebücher ab, dachte über die Reisen nach und zog Bilanz: „Wir leben ja auf dem Meer wie auf einer anderen Erde.“

Ab 1939 konnte Ida Dehmel nicht mehr reisen. Es wurde still im Dehmelhaus, das einst eine gefragte Adresse im Hamburger Kulturleben war. Unter nationalsozialistischer Herrschaft geriet Ida Dehmel nun zunehmend in Bedrängnis. Zwar konnten einflussreiche Unterstützer Ausnahmen erwirken und eine Deportation verhindern, doch gegen innere Einsamkeit und quälende Gedanken konnten sie nichts tun. „Ich sitze sozusagen nur noch auf der Ecke meines Stuhles. Dass ich weiter auswandere als nach Frankreich – das ist sicher. So sage ich jedes Wort als sei es mein letztes.“ wurde Ida Dehmel 1941 zitiert. Am 29.9.1942 nahm sie sich alt, krank und allein das Leben.

Das Dehmelhaus wurde 2016 restauriert und für Besucher geöffnet, das Dehmel-Archiv befindet sich in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg.

Quelle: Ida Dehmel zurück im Garten ihres Hauses in Hamburg, 1939, Dehmelhaus Stiftung.
Quelle: Schlagzeile des Honolulu Star Bulletin vom 7.12.1941, Honolulu Star-Advertiser.

Heymanns Ankunft in Manila – Der Frieden währt nur kurz

„Hier macht sich der Krieg durch Fliegerangriffe unangenehm bemerkbar, und der Blackout ist so vollständig, dass in unserem Haus sogar während der Dunkelheit das Rauchen untersagt ist.“ (E. Heymann, 1941)

In der Transitstation Saigon (Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam) erhielten die Heymanns nach komplizierten Verhandlungen ein Besuchsvisum des amerikanischen Konsulats für die Philippinen, mit dem sie Manila erreichten. Dank eines befreundeten Ehepaares, das sich bereits auf den Philippinen befand, konnten sie dortbleiben. Ihre Angst, weiter nach Shanghai auswandern zu müssen, konnten sie somit hinter sich lassen.

Dennoch setzten sich die Schwierigkeiten in Manila, z.B. mit der Immigrationsbehörde fort: „Die Unliebenwürdigkeiten [sic!] dieser Behörde dauerten bis zum Kriegsbeginn, und am ersten Tag des Kriegs wurde ich nicht weniger als drei mal verhaftet.“ Im Zuge der japanischen Kriegserklärung an die Philippinen im Dezember 1941 wurden Deutsche, Italiener und Japaner interniert. Auch Heymann wurde verhaftet, konnte aber aufgrund seines Status als jüdischer Flüchtling wieder freikommen. Den weiteren Verlauf des Zweiten Weltkrieges erlebten er und seine Frau wahrscheinlich im umkämpften Manila.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Ernst Heymann in die USA, wo er am 11.4.1947 in Los Angeles verstarb. Helene Heymann kehrte in ihre Heimatstadt Hamburg zurück. Das Haus in der Hagedornstraße 22 wurde trotz intensiver Bemühungen um „Wiedergutmachung“ nicht das neue Zentrum der Familie. Denn die meisten Familienmitglieder waren entweder deportiert worden oder waren über Angola bzw. die Philippinen ausgewandert. Sie fanden eine neue Heimat in den USA. Helene Heymann blieb hingegen in Hamburg.

Quelle: Das Haus von Helene und Ernst Heymann in der Hagedornstraße 22 im Hamburger Stadtteil Harvestehude, Archiv des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden.