Schreiben von Jacob H. Schiff (New York) an Max Warburg (Hamburg), 28.1.1915

    Das Digitalisat der Quelle ist unter www.americanjewisharchives.org/german-jewish-history/ einsehbar. |1 : [1]|
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    Ich danke Ihnen auch für die freundlichen persönlichen Worte,
    die Sie über mein November „Times“ Interview mir schreiben, wenn ich
    auch ganz gut weiß, dass ich wegen dessen was ich ehrlich und offen
    gesagt, nicht nur in England und Frankreich, sondern noch mehr in
    Deutschland bitter angegriffen worden bin, während hier mir meine
    Aussprache vielen Beifall von allen Seiten gebracht hat, und sogar
    Dernburg gleich nachher zu mir kam, um mir zu sagen, wie sehr er
    meine Position verstehe und würdige und mit dem, was ich gesagt, fast
    vollständig einverstanden sei, wenn er dies auch nur in seiner privaten
    Eigenschaft und nicht als Vertreter Deutschlands tun könne.


    Was meine Absicht war, und fernerhin sein muss, ist zu ver-
    suchen, beiden Seiten das Bewusstsein beizubringen in was ihre be-
    treffende Position falsch sei und wie notwendig es ist, dass die kriegs-
    führenden Völker oder Regierungen es einsehen lernen, dass ein Krieg
    à outrance exzessiv das schrecklichste Resultat wäre, das erzielt werden
    könnte; dass in dieser Weise ein dauernder Friede nie und nimmer ge-
    schaffen werden kann, und dass beide Seiten zurückgreifen müssen zu
    den Konditionen, die vor dem Ausbruch des Krieges existiert und den
    Konflikt mit unwiderstehlicher Macht herbeigeführt haben, um dann ge-
    meinschaftlich den Versuch zu machen, ob diese Ursachen durch gegen-
    seitige Konzessionen nicht dauernd beseitigt werden können.


    Ich weiß ganz gut, dass derjenige, der versucht, da wo die
    Leidenschaften so furchtbar entfesselt sind, wie es jetzt in Europa
    der Fall ist, die Rolle des Friedensstifters zu übernehmen, notwendiger-
    weise verkannt werden muss, und sich selbst den schlimmsten Angriffen
    aussetzt, aber trotzdem werde ich, in Gemeinschaft mit anderen nach
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    dieser Richtung unbeirrt weiter arbeiten, weil ich die Überzeugung
    habe, dass dies meine Pflicht ist.


    Genau so wie alle meine Korrespondenten in Deutschland mit
    der größten Bitterkeit über die Feinde, die Deutschland gegenüber-
    stehen schreiben und mir sagen, dass Deutschland siegen müsse und
    siegen werde und nie und nimmer in einen Frieden einwilligen würde,
    der ihm nicht alles das zugestehe, wofür es in den Krieg gegangen, –
    genau so scharf und ungebeugt schreiben mir meine Freunde, die auf
    der anderen Seite stehen und ebenso wie der Deutsche glaubt, nur für
    sein gutes Recht zu kämpfen, ebenso glaubt das auch der Engländer
    und der Franzose. Somit würde die Entscheidung schließlich nur durch
    die rohe Macht und Übermacht herbeigeführt werden können, und damit
    sind Zustände geschaffen wie sie eben auch in Mexico existieren, und
    über welche zivilisierte Länder und Menschen so sehr entrüstet sind.
    Das ist ja eben das Schreckliche, dass der Krieg und die gegenwärtigen
    Zustände bereits anfangen zur Tagesordnung und zur Gewohnheit zu
    werden, und auf diese Weise der sittliche Wert der Völker und ihre
    Zivilisation auf ein niederes Niveau herabgedrückt wird.


    Ich habe es für angemessen gehalten Ihnen so ausführlich zu
    schreiben wie ich mit vielen anderen hierzulande fühle, und ich hoffe
    aufrichtig, dass Sie trotz Ihrer, wie Sie schreiben kriegerischen
    Gefühle, das was ich gesagt, als die offenen Worte eines Freundes
    aufnehmen werden; dessen bin ich übrigens gewiss!


    Mit herzlichen Grüßen Ihnen selbst, Ihrer guten Mutter [Charlotte Esther Warburg geb. Oppenheim], Ihrer
    lieben Frau und mit Küssen für die Kinder, alles das auch von meiner
    Frau, bin ich, Stets Ihr treuer
    gez. Jacob H. Schiff

    Quellenbeschreibung

    Der Brief von dem 1847 in Frankfurt geborenen und 1865 in die USA emigrierten Jacob H. Schiff aus New York an Max M. Warburg in Hamburg entstand vor dem Hintergrund der Geschehnisse und politischen Konstellation seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Europa im Sommer 1914. Er thematisiert sowohl die amerikanische Neutralitätsperspektive auf die europäische Kriegssituation als auch die unterschiedlichen Positionen und Handlungsspielräume, die damit verbunden waren. Zugleich verweist er auf die Loyalitätskonflikte, die durch den Kriegsausbruch entstanden. Datiert ist der schreibmaschinengefertigte Brief auf den 28. Januar 1915; er ist Teil einer umfangreicheren transatlantischen Korrespondenz zwischen beiden Protagonisten in deutscher Sprache. Das Dokument befindet sich im Nachlass von Jacob Schiff am Jacob Rader Marcus Center der American Jewish Archives in Cincinnati, Ohio (USA).
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    Empfohlene Zitation

    Schreiben von Jacob H. Schiff (New York) an Max Warburg (Hamburg), 28.1.1915, veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-84.de.v1> [19.03.2024].