Die Jungen vom Gusch. Zionistische Wertevermittlung in der Jugendliteratur

Hadassah Stichnothe

Quellenbeschreibung

Die Doppelseite stammt aus dem zionistischen Jugendbuch „Die Jungen vom Gusch“, das 1936 im Berliner Kedem Verlag erschien und von Bernhard Gelbart verfasst wurde. Der Roman ist an Jugendliche adressiert und umfasst 125 Seiten. In dem ausgewählten Textausschnitt wird ein Treffen der zionistischen Jugendgruppe um den Protagonisten Kurt geschildert, bei dem Leo Siegler, der Onkel eines Gruppenmitglieds, aus Palästina zu Besuch kommt und die nächste Gruppenfahrt besprochen wird. Der Text wird ergänzt durch eine Illustration, die den Onkel mit den ausgelassen tobenden Jungen zeigt. Als der Roman erschien, unterlagen Leser und Produzenten deutsch-jüdischer Kinderliteratur erheblichen Beschränkungen. Mit der Gründung der Reichsschrifttumskammer 1933 wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass jüdische Schriftsteller nur noch in jüdischen Verlagen und für eine jüdische Leserschaft schreiben konnten. Texte, die eine deutsch-jüdische Kultur repräsentierten, wurden von der Zensur unterdrückt. Dagegen wurden zionistische Texte, die für die zunächst staatlicherseits favorisierte Auswanderung der jüdischen Bevölkerung warben, sogar gefördert. Diese politische und thematische Einengung führte zu einer kurzen Hochphase der deutsch-jüdischen Kinderliteratur und besonders der zionistischen Literatur. Die zentralen Anliegen dieser Literaturströmung, die seit Beginn der 1930er-Jahre zur dominanten Strömung innerhalb der deutsch-jüdischen Kinderliteratur angewachsen war, lassen sich an der ausgewählten Textpassage gut ablesen.
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Inhalt des Romans


Der Roman, eine „Geschichte von jüdischen […] Lausejungen“ (S. 9), schildert die Erlebnisse einer zionistischen Jugendgruppe, die sich „die Jungen vom Gusch“ nennt. Der Gusch  Block symbolisiert dabei das unbedingte Gemeinschaftsgefühl einer Gruppe gleichgestellter junger Menschen, deren gemeinsames Ziel die Emigration und der Aufbau einer ebenso egalitären wie uniformen Gesellschaft in Palästina ist. Auf Anregung des Onkels von Julle, einem Guschmitglied, beschließen die Jungen, auf einem Bauernhof eine eigene Kwuzah Gruppe zu errichten, also eine landwirtschaftliche Kleinsiedlung nach dem Vorbild der Siedlungen in Palästina. Der Protagonist Kurt wird von seinen wohlmeinenden, aber verständnislosen Eltern in ein jüdisches Kinderheim geschickt. Kurt kann die dort praktizierte kindertümelnde Bewahrpädagogik, die Kinder vor jedem denkbaren Unglück zu schützen versucht, ihnen aber gleichzeitig jede Autonomie abspricht und sie nicht ernst nimmt, bald nicht mehr ertragen und entschließt sich zur Flucht. Nach geglückter Wiedervereinigung mit seiner Gruppe verbringen Kurt und seine Freunde die Zeit mit dem erfolgreichen Aufbau ihrer Kwuzah Lezanim Gruppe der Clowns, Spaßmacher, hier im Sinne von: Lausbuben. Probleme werden dabei von den Jugendlichen selbst erkannt und gelöst. Auch ein Streit um aus dem Gemeinschaftseigentum entwendete Süßigkeiten endet mit der Einsicht und Reintegration des Missetäters in den Gruppenverband. Der Text enthält eine deutliche Auswanderungsaufforderung an die jugendlichen Leser, die sich zum Publikationszeitpunkt zunehmenden Repressionen ausgesetzt sahen und denen die zionistische Kinderliteratur nicht nur Ablenkung, sondern auch eine praktische Zukunftsperspektive vermitteln wollte.

Der Autor Bernhard Gelbart war selbst Teil der zionistischen Jugendbewegung. Er wurde in Altona geboren und arbeitete bereits als Jugendlicher als Jugendredakteur beim Hamburger Israelitischen Familienblatt. Gelbart war ein begabter Zeichner, der außer seinem eigenen Roman „Die Jungen vom Gusch“ auch noch zwei weitere zionistische Kinderbücher illustrierte. Darüber hinaus war er Mitglied der zionistischen Bauleute (Habonim), deren Jugendzeitung er mit herausgab.

Einfluss der kinderliterarischen Moderne


Formal und inhaltlich ist der Roman beispielhaft für die Modernisierung jüdischer Kinderliteratur zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zugleich für die gesellschaftlichen Umbrüche, die sie prägten. Die Illustrationen des Autors, die wie in der vorliegenden Abbildung reduzierte Formen, klare Linien und einen zur Karikatur tendierenden Stil aufweisen, sind deutlich vom Stil der Neuen Sachlichkeit beeinflusst. Diese Anbindung an die Moderne erfolgt auch auf der textuellen Ebene, durch mehrere intertextuelle Verweise auf Erich Kästners „Emil und die Detektive“ (1929). Gelbarts Protagonisten sind wie die Kinder in Kästners Roman gewiefte Großstadtkinder und sprechen ihre eigene Sprache. Allerdings handelt es sich hier um den Soziolekt der jüdischen Jugendbünde, der auch die sogenannten „Fahrtenausdrücke“ wie beispielsweise „Süko“ für „Süßkost“ (S. 125) umfasst. Nicht zuletzt sind die Anleihen bei Kästner, dessen Werke 1933 bei den Bücherverbrennungen öffentlich zerstört wurden, ein subversiver Verweis auf eine andere kinderliterarische Tradition als jene, die von den Nationalsozialisten gefördert wurde. Dennoch sollte der Bezug zu Kästner vom heutigen Leser nicht als Apologie einer deutsch-jüdischen Kinderliteraturtradition missverstanden werden. Gelbart versucht nicht, dem staatlich geförderten Antisemitismus mit dem Hinweis auf eine gemeinsame kulturelle Basis entgegenzutreten. Stattdessen entspricht seine Haltung jener der meisten zionistischen Jugendbuchautoren: Für diese bestand die Antwort in der Schaffung einer neuen jüdischen Identität und der Ausrichtung der Zukunftsplanung auf Palästina. Im Text wird dies daran deutlich, dass die Jungen ihren Aufenthalt in Deutschland offenkundig als vorübergehend betrachten und ihre Freizeitgestaltung auf eine baldige Auswanderung nach Palästina ausgerichtet ist.

Zionistische Wertevermittlung


Die Vermittlung zionistischer Werte steht deswegen im Mittelpunkt des Romans und wird auch in der hier ausgewählten Textstelle deutlich. Die Jungen vom Gusch  Block zeichnen sich durch ein starkes Gemeinschafts- und Kameradschaftsgefühl aus. Als Gruppe agieren sie weitgehend unabhängig von Erwachsenen. So erfährt der Leser etwa, dass sie die Räume für ihren Heimnachmittag selbst gemietet haben und seitdem kein Erwachsener an diesen Treffen teilgenommen hat. Auch der Gruppenleiter Mosche ist noch ein Jugendlicher und lässt sich aufgrund seines Alters und seiner Funktion als Alter Ego des Autors lesen. Die Passage über einen Besucher der Gruppe, Leo Siegler, illustriert sowohl das neue Kindheitsbild der zionistischen Jugendliteratur als auch das ideologische Vorbild des zu erschaffenden neuen Juden.

Sieglers Auftreten gegenüber den Jungen ist dezidiert antiautoritär, er fordert sie sogar auf, ihn zu duzen. Dieser egalitäre Umgangston zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ist ein Merkmal der Jugendbewegung und ihres innovativen Kinderbildes. Darüber hinaus entspricht Siegler auch optisch dem zionistischen Idealbild des jüdischen Mannes: Die Illustration zeigt ihn als sportlichen Mann ohne Schlips und Kragen, der laut Text aussieht wie ein Chaluz  Pionier, also ein „jüdischer Arbeiter aus Palästina“ (S. 22). Damit unterscheidet er sich deutlich von den Eltern der Jungen, die dem Bürgertum angehören, und nicht zuletzt auch vom traditionellen jüdischen Männlichkeitsideal des Schriftgelehrten. In Leo Sieglers Person deutet sich somit das angestrebte Ideal der Berufsumschichtung an, das seine praktische Umsetzung in der Hachschara fand.

Das in der Textstelle besprochene Projekt, also der selbständige Aufbau einer landwirtschaftlichen Siedlung durch die Jungen, ist eine Form der Hachschara, der Vorbereitung und Ausbildung junger Menschen als Landarbeiter in Palästina. Die von den Jungen vorgeschlagenen Tätigkeiten weisen auf den Charakter dieser Selbstausbildung hin: „viele Wanderungen“ in freier Natur, Geländespiele und eigenes Essen kochen (S. 23). Hier handelt es sich um Tätigkeiten, die der körperlichen Ertüchtigung in der freien Natur dienen und in dieser Form fest im Programm der Jugendbewegungen verankert waren. Das Besondere der zionistischen Jugendbewegungen war die Einbettung dieser Tätigkeiten in die Vorbereitung zur Auswanderung. Ein weiterer Aspekt dieser praktischen Vorbereitung ist das Erlernen der hebräischen Sprache. In Gelbarts Roman findet dieses Ziel durch die beiläufige Verwendung hebräischer Vokabeln als Teil des Jugendvokabulars statt. So trägt der dicke Maxi den hebräischen Spitznamen „Baal-Guf Träger eines Körpers“, die Jungen bezeichnen sich als „Chawerim Freunde“ und singen hebräische Fahrtenlieder. Die hebräischen Ausdrücke werden am Ende des Romans in einem Glossar erläutert. Die Verwendung des Glossars weist einerseits auf das didaktische Ziel der Sprachvermittlung hin, andererseits verdeutlicht sie auch die Notwendigkeit dieser Erläuterungen, da beim Zielpublikum Hebräischkenntnisse offenbar nicht vorausgesetzt werden konnten.

Emigration als Zukunftsperspektive


Das Leben in Deutschland erscheint lediglich als Vorbereitung auf das Leben in Erez Israel. So heißt es an anderer Stelle im Roman: „Das ist nicht nur ein frohes Spiel […] Wir wollen uns hier an Arbeit gewöhnen, an Bescheidenheit und an ein Leben in der Gemeinschaft – wie es unsere Chawerim Freunde in Erez Jisrael führen. Das ist, ganz kurz gesagt, der Sinn unserer ‚Kwuzah Gruppe Lezanim Gruppe der Clowns, Spaßmacher, hier im Sinne von: Lausbuben. Wir haben selbst uns Hütten gebaut, wir schlafen auf Stroh, wir kochen unser einfaches Mahl selbst – nicht nur, weil es uns Spaß macht; – wir wollen uns selbst dadurch erziehen“ (S. 116).

Es handelt sich, das wird ebenso deutlich, bei der im Roman beschriebenen Auswanderungsbewegung um ein Jugendphänomen. Die Elterngeneration hat, mit Ausnahme von Leo Siegler, offenbar kein Interesse am Aufbau eines eigenen jüdischen Staates oder gar der Emigration. Tatsächlich sollten und mussten zionistische Texte ihre Leser auf eine Auswanderung ohne die Eltern vorbereiten, da diese oftmals gezwungen waren, zurückzubleiben. Aber auch für die Jugendlichen selbst war die Auswanderung nach Palästina alles andere als ein leichter Ausweg, da der Kinder- und Jugendalija nur eine begrenzte Anzahl an Visa zur Verfügung stand.

Neuanfang in Palästina


Auch der Autor Bernhard Gelbart kam der von ihm selbst formulierten Emigrationsaufforderung nach, allerdings unter unvorhergesehenen Umständen. 1938 war Gelbart Leiter einer Jugendgruppe der Habonim auf einem Ausbildungshof in Polen. Im Oktober wurde die Gruppe von der sogenannten „Polenaktion“ überrascht, der gewaltsamen Abschiebung jüdischer Polen aus Deutschland. Nach dem Kriegsausbruch schien den Jugendlichen zunächst sowohl der Weg nach Hause als auch nach Palästina versperrt. Gelbart war für eine kleine Gruppe Kinder verantwortlich, die er in einer zweijährigen Irrfahrt (1939–1941) durch Polen und Litauen, stets bedroht von den politischen Wechselfällen des Krieges, schließlich von Vilnius aus nach Palästina brachte. Die Geschichte seiner abenteuerlichen Flucht nach Palästina schilderte Gelbart später in seinem Aufsatz „Homeward Flight“ (dt. „Jugend-Alijah im Wirbel der Zeiten“), der in einer Werbeschrift der Habonim veröffentlicht wurde. In Palästina arbeitete Gelbart, der sich nun mit Vornamen Dan nannte, im Kibbuz Alonim. Er heiratete die ebenfalls aus Deutschland stammende Lotti Bauer und schrieb und illustrierte das Jugendbuch „משפחת ישראל“ (Mishpacḥat Yisrael, 1958). In Israel wurde Gelbart zu einem bekannten Grafiker und Karikaturisten der Kibbutzbewegung. Sein Jugendroman „Die Jungen vom Gusch Block“ ist ein lebhaftes Dokument der zionistischen Hoffnung in einer hoffnungslosen Zeit.

Auswahlbibliografie


Dan Gelbart, Homeward Flight, London 1942.
Dan Gelbart, „Homeward Flight“. Hamburg – Zbaszyn – Alonim (1938-1941), in: Gerhard Paul / Miriam Gillis-Carlebach (Hrsg.), Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona (1918-1998), Neumünster 1998, S. 459-468.
Gabriele von Glasenapp / Michael Nagel, Das jüdische Jugendbuch. Von der Aufklärung bis zum Dritten Reich, Stuttgart 1996.
Eva Gressnich, Bernhard Gelbart: Die Jungen vom Gusch. Ein jüdisches Jugendbuch, in: Bettina Kümmerling-Meibauer (Hrsg.), Jüdische Kinderliteratur. Geschichte – Traditionen – Perspektiven, Wiesbaden 2005, S. 32–33.
Annegret Völpel, Jüdische Kinder- und Jugendliteratur unter nationalsozialistischer Herrschaft, in: Annegret Völpel / Zohar Shavit (Hrsg.), Deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur. Ein literaturgeschichtlicher Grundriß, Stuttgart 2002, S. 341–414.

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Zur Autorin

Hadassah Stichnothe, Dr. phil., promovierte im Fachbereich Neuere Deutsche Literatur an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ist zurzeit Lehrbeauftragte an der Universität Bremen. Thema ihrer Promotion: Der Initiationsroman in der deutsch- und englischsprachigen Kinderliteratur; Forschungsschwerpunkte: Kinderliteratur, deutsch-jüdische Kinderliteratur, Weimarer Republik / Zwischenkriegszeit, Narratologie, Kinderbuch-Apps

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Hadassah Stichnothe, Die Jungen vom Gusch. Zionistische Wertevermittlung in der Jugendliteratur, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 10.05.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-85.de.v1> [28.03.2024].

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