Ein Preisausschreiben als Versuch zur Wiederbelebung der jüdischen Tradition

Helga Krohn

Quellenbeschreibung

Die wiedergegebene Ankündigung im „Israelitischen Familienblatt“ Nr. 38, 20.9.1928, Beilage „Aus alter und Neuer Zeit“ Nr. 27 ist mehr als eine Werbung zur Teilnahme am Preisausschreiben unter Hervorhebung wertvoller Gewinne. Sie liefert eine Begründung für die Auswahl der Preise. Als Erfinder und Gestalter des Preisausschreibens firmieren „Verlag und Schriftleitung“. Mit Sicherheit kann davon ausgegangen werden, dass Leo I. Lessmann, der Herausgeber der Zeitung, die ausführlichen Texte zu den Preisausschreiben verfasst hat. Sie entsprachen seinem Interesse, jüdische Traditionen zu beleben und Kenntnisse der jüdischen Religionsausübung zu vermitteln.
Leo I. Lessmann wurde 1891 in Altona geboren. Nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg führte er das von seinem Vater Max Lessmann gegründete „Israelitische Familienblatt“ weiter. Er war ein religiös-orthodox orientierter Jude, der der Verwaltung der Neuen Dammtor-Synagoge angehörte. Zwischen 1926 und 1932 bot das „Israelitische Familienblatt“, eine in Hamburg herausgegeben und in ganz Deutschland verbreitete jüdische Zeitung, anspruchsvolle Preisausschreiben an, die sich großer Beliebtheit erfreuten. Die Lösungen setzten Kenntnisse in der jüdischen Kultur und Religion voraus, die Preise bestanden überwiegend aus wertvollen Kultgeräten für die häusliche Religionsausübung sowie Gemälden und Büchern mit einem Bezug zur jüdischen Religion und Kultur. Die zahlreichen Preise waren sehr verlockend und wertvoll.
  • Helga Krohn

Leo Lessmanns Motive


In dem vorliegenden Text bringt Lessmann deutlich seine Absicht und Zielsetzung mit den Preisausschreiben und der Auswahl der Preise zum Ausdruck. Er äußert seine Besorgnis über den Verlust der jüdischen Tradition und den Rückgang der Religionsausübung seit der bürgerlichen Gleichstellung und dem Bemühen vieler Juden, integrierter Teil der bürgerlichen Gemeinschaft zu werden. Er wünscht sich eine Neu- oder Wiederbelebung der häuslichen jüdischen Zeremonie und misst der jüdischen sakralen Kunst für den Erhalt eines jüdischen Bewusstseins und einer jüdischen Identität eine große Bedeutung zu. Ihn beunruhigt, dass infolge der Auflösung von Landgemeinden in Deutschland, Polen und der UdSSR sowie durch säkularisierte Familien und desinteressierte Erben von häuslichen Kultgeräten bisher schon viele wertvolle und volkstümliche Objekte verloren gegangen, auf dem allgemeinen Kunstmarkt gelandet oder in christlichen Besitz gelangt seien. Der Befürchtung, dass zahlreiche weitere Objekte verloren gehen könnten, entspringt die Vorstellung, auch über Preisausschreiben das Bewusstsein dafür zu schärfen und Juden anzuregen, Objekte in ihrer Umgebung zu sichern, sie zu sammeln oder bestehenden jüdischen Sammlungen zur Verfügung zustellen. Es scheint zwar unwahrscheinlich, dass – wie es in dieser Quelle erhofft wird – die Gewinner selbst Sammler werden, aber das Anliegen des Familienblatts war in erster Linie, die Leser auf die Wichtigkeit des Erhalts von Kultgeräten in den Familien und den Synagogen hinzuweisen und sie in die Bewahrung einzubeziehen.

Die Gewinne


Der Artikel illustriert und beschreibt nur einen Teil der Gewinne des zwei Wochen früher veröffentlichten Preisausschreibens. Die Preisausschreiben fanden immer um Rosch Haschana (Neujahr) statt. Zu gewinnen waren: als erster Preis eine 20-tägige Touristenfahrt nach Palästina, als zweiter Preis ein wertvolles Gemälde eines nicht genannten bedeutenden jüdischen Künstlers; als dritter Preis ein Satz silbernen jüdischen Kultgeräts (Chanukkaleuchter  Leuchter mit neun oder acht Armen, der anlässlich des Chanukka-Festes genutzt wird., Kidduschbecher  meist reich verzierter Becher, über dem der Wein am Schabbat und anderen jüdischen Festtagen gesegnet wird, B’somimbüchse  meist künstlerisch gestaltete Dose, in der duftende Gewürze aufbewahrt werden, an denen am Ende des Schabbat gerochen wird, um den Duft des Festtags mit in den Alltag zu nehmen , Esrogschale  meist künstlerisch gestaltete Schale in die der Etrog (auch: Esrog), eine Zitrusfrucht, die zum Feststrauß des Laubhüttenfests gehört, gelegt wird). Der vierte Preis war ein Grammophon mit zwölf hebräischen und jiddischen Schallplatten; der fünfte bis siebte Preis je ein wertvoller Kidduschbecher  meist reich verzierter Becher, über dem der Wein am Schabbat und anderen jüdischen Festtagen gesegnet wird und eine B’somimbüchse  meist künstlerisch gestaltete Dose, in der duftende Gewürze aufbewahrt werden, an denen am Ende des Schabbat gerochen wird, um den Duft des Festtags mit in den Alltag zu nehmen, der achte bis 14. Preis je eine silberne B’somimbüchse  meist künstlerisch gestaltete Dose, in der duftende Gewürze aufbewahrt werden, an denen am Ende des Schabbat gerochen wird um den Duft des Festtags mit in den Alltag zu nehmen; die Preise 15–44 waren je eine künstlerisch ausgestattete illustrierte Pessach-Haggadah  Buch, in dem die Geschichte des Auszugs aus Ägypten nacherzählt wird und das die Ordnung der Zeremonie für den Vorabend des Pessach-Fests vorgibt. Der 45.–75. Preis war als Herrengeschenk je eine Taschenuhr mit hebräischem Ziffernblatt und einer Darstellung Moses mit den Gesetzestafeln auf der Rückseite; als Damengewinn je ein Exemplar des Kochbuchs für die jüdische Küche, herausgegeben vom Jüdischen Frauenbund. Die Auswahl der Gewinne ist – wie es in der Quelle heißt – „durchaus dem seriösen Charakter des Romans und der Preisaufgabe – und dem jüdischen Charakter unseres Blattes angepaßt“.

Die Aufgabe


Die Preisaufgabe, die „unter Mitwirkung einer ganzen Reihe bekannter jüdischer und nichtjüdischer Schriftsteller entstanden“ war, bestand darin, die zwölf Verfasser des Romans „Wanderung und Heimkehr“ zu benennen. Der Roman erschien in einzelnen Kapiteln fortlaufend in der Zeitung. „Zwölf Autoren haben ihn – jeder ein Kapitel – gemeinsam geschrieben, zwölf Autoren aus verschiedenstem Milieu: Männer und Frauen, Deutsche und Ausländer, ja sogar Juden und Nichtjuden – und doch zwölf Autoren, deren Stileigenheiten, die von ihnen bevorzugten Schauplätze, Typen und Probleme unseren Lesern aus häufigen Beiträgen in unserem Blatte bereits gut vertraut sind“ Israelitisches Familienblatt Nr. 36, 6. September 1928, S.14.. Wie alle Preisausschreiben war auch dieses anspruchsvoll und setzte Kenntnisse der jüdischen Religion und Tradition voraus. Bei anderen waren darüber hinaus Kenntnisse der hebräischen Sprache und der aschkenasischen Schreibweise von Kultgeräten und Festtagen Voraussetzung zur Lösung des Rätsels.

Die Judaica-Sammlung des „Israelitischen Familienblatts“


Unter den 75 Gewinnen waren also 17 silberne Zeremonialobjekte. In den folgenden Jahren wurde ihr Anteil an den Preisen erheblich erhöht. Es stellt sich die Frage, woher diese Objekte kamen. Die Fotos verweisen auf Lessmanns eigene Sammlung von Judaica. Er trug die umfassendste und vielfältigste Sammlung zusammen, die es im frühen 20. Jahrhundert in Deutschland gab, nachdem einige andere aufgelöst worden waren. Im Jahr 1925 hatte er mit dem Aufbau der Sammlung begonnen, 1930 umfasste sie gut 500, im Jahr 1935 gut 1.000 Objekte: Menorot , Kidduschbecher  meist reich verzierter Becher, über dem der Wein am Schabbat und anderen jüdischen Festtagen gesegnet wird, Gewürzdosen  meist künstlerisch gestaltete Dose, in der duftende Gewürze aufbewahrt werden, an denen am Ende des Schabbat gerochen wird um den Duft des Festtags mit in den Alltag zu nehmen, Pessachgeräte, Beschneidungsbestecke, Rimonim  wörtl. Granatäpfel; schmuckvolle Aufätze der Torarollen und anderes mehr. Aufgestellt war die Sammlung in einem Museumszimmer in seiner Privatwohnung in der Hamburger Badestraße. Die gezeigten Aufnahmen wurden wahrscheinlich in diesem Zimmer gemacht. Lessmanns Sammlung repräsentierte mit Arbeiten aus Osteuropa, Italien, dem Orient und Deutschland die Gestaltungsvielfalt von Gegenständen, die jeweils dem gleichen religiösen Zweck dienten, deren Formen und Motive aber stark von der Umgebung beeinflusst waren. Deshalb erwarb er sowohl sehr wertvolle und künstlerisch gestaltete Objekte wie auch Objekte der Volkskunst, sowohl traditionelle als auch moderne. Regelmäßig suchte er über Anzeigen in seiner Zeitung Judaica, die er bereit war zu „hohen Preisen“ zu erwerben. Nie allerdings taucht sein Name in Zusammenhang mit der Sammlung oder den Anzeigen auf. Stattdessen wird sie sowohl in Artikeln wie auch bei der Vorstellung einzelner Objekte als „Kultgerätesammlung des Israelitischen Familienblatts“ vorgestellt.  Beschreibung und Fotos „Israelitisches Familienblatt“ Nr. 29, 17. Juli 1930, Beilage „Aus alter und neuer Zeit“ Nr. 17, S. 133

Das „Israelitische Familienblatt“


Die Überschrift „Das Israelitische Familienblatt im Dienste der jüdisch-sakralen Kunst“ enthält eine programmatische Aussage, und die Quelle regt an, über weitere Artikel dieser Zeitung einen Kontext zu den Preisausschreiben zu erschließen. Das „Israelitische Familienblatt“ war die am weitesten verbreitete und meistgelesene jüdische Zeitung in Deutschland. Sie war gemäßigt liberal, unparteiisch, apolitisch und populär dank eines umfangreichen Unterhaltungsteils. Sie informierte ausführlich über das Leben in jüdischen Gemeinden weltweit und stellte jüdische Persönlichkeiten vor. Die Förderung von Bildung und Erziehung war eine wichtige Zielsetzung. Aus den damaligen Auseinandersetzungen zwischen Zionismus und Assimilation beteiligte sie sich nicht. Herausgegeben wurde die Zeitung von 1898 bis 1935 in Hamburg, dann noch bis zum Verbot 1938 in Berlin. Lessmann benutzte insbesondere die reich bebilderte Beilage „Aus alter und neuer Zeit“ zur Vermittlung von Kenntnissen über die vielfältige jüdische Kultur, über die Bedeutung von Zeremonialgeräten, über hebräische Drucke sowie über Kunst, Literatur, Feste und Gebräuche. Ihm ging es also darum, das reichhaltige jüdische Kulturgut zu erhalten und zugleich mit jüdischer „Volksbildung“ dem Desinteresse am Judentum entgegen zu wirken. In zahlreichen Artikeln ließ er von Experten Objekte aus der „Sammlung des Israelitischen Familienblattes“ sowie anderer privater Sammlungen und Museumssammlungen vorstellen. Diese mit zahlreichen Fotos anschaulich gestalteten Artikel sind heute eine wichtige Quelle, nachdem die meisten Kultgeräte verloren gegangen sind oder der Zerstörung anheim fielen. Auch die in diesem Artikel vorgestellten Preise, die von einer Palästinareise bis hin zu Kultgegenständen reichen, zeigen den Versuch, ein breites Publikum anzusprechen, ohne sich einer politischen oder geistigen Strömung zuzuordnen. Dieses konnte von säkularen Zionisten bis zu orthodoxen Juden reichen.

Das Ende des „Israelitischen Familienblatts“


1935 verkaufte Leo I. Lessmann zu von den Nationalsozialisten diktierten Bedingungen Verlag und Druckerei, bereitete seinen Umzug nach Berlin und anschließend seine Auswanderung vor. Im Frühjahr 1939 gelang es ihm, mit seiner Familie von Amsterdam aus nach Palästina zu emigrieren. Seine verpackte Sammlung blieb in Amsterdam und wurde dort 1943 von der Gestapo beschlagnahmt. Sie gilt als verloren. In Tel Aviv sicherte Lessmann seinen Lebensunterhalt durch Mitarbeit an dem deutschsprachigen Nachrichtenblatt „Blumenthals Neueste Nachrichten“. Er starb 1970 in Tel Aviv.

Auswahlbibliografie


Helga Krohn, „Das Israelitische Familienblatt in Dienste der jüdisch-sakralen Kunst“. Die Sammlung Leo I. Lessmann, in: Andreas Brämer / Stefanie Schüler-Springorum / Michael Studemund-Halévy (Hrsg.), Aus den Quellen, Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte. Studien zur jüdischen Geschichte, Bd. 10, Hamburg 2005, S. 79-88.
Erich Toeplitz, „Die Kultsammlung des Israelitischen Familienblattes“. Israelitisches Familienblatt Nr. 29. 17. Juli 1930, Beilage „Aus alter und neuer Zeit“ Nr. 17; S. 133

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Zur Autorin

Helga Krohn, Dr. phil., Veröffentlichungen zur Geschichte der Juden in Hamburg und Frankfurt am Main. Bis 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Jüdischen Museums Frankfurt am Main.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Helga Krohn, Ein Preisausschreiben als Versuch zur Wiederbelebung der jüdischen Tradition, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.03.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-177.de.v1> [28.03.2024].

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