Der Neuanfang der Jüdischen Gemeinde in Hamburg (1945). Die zwölf Gründungsväter

Ina Lorenz

Quellenbeschreibung

Am 8.7.1945, einem Sonntag, trafen sich zwölf Hamburger Juden in der Wohnung von Chaim Golenzer, Rutschbahn 25a, einem sogenannten „Judenhaus“, in der Absicht, die durch das NS-Regime vernichtete Gemeinde zu reorganisieren. Sie waren ehemalige Mitglieder der Deutsch-Israelitischen Gemeinde zu Hamburg. Die Aussprache eröffnete Josef Gottlieb, der vermutlich den Anstoß zur Gründung der jüdischen Gemeinde in Hamburg gegeben hat. Die Versammelten waren jedoch nicht die einzigen, die sich für eine Reorganisation der ehemaligen Gemeinde interessierten. Das Versammlungsprotokoll vom 8. Juli verweist auf etwa 80 Juden, die sich „gemeldet“ hätten. Ein undatierter Aufruf mit der Überschrift „Es werden Vorbereitungen getroffen unsere alte Juedische Gemeinde neu ins Leben zu rufen“ verzeichnete die Namen von 77 Männern und 25 Frauen. Das Protokoll zeigt, dass die Versammlung der Zwölf nicht nur eine lose Besprechung, sondern zielgerichtet konzipiert war.
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Das Protokoll dieser Zusammenkunft dokumentiert als zeitlich frühestes Dokument den Neuanfang der Hamburger jüdischen Gemeinde nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. Am 3.5.1945 kapitulierte Hamburg vor der britischen Armee als offene Stadt. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Hamburg – nach den nationalsozialistischen Kriterien – acht ledige „Volljuden“, 106 „Volljuden in einfacher Mischehe“, 525 „Volljuden in privilegierter Mischehe“ und drei ausländische Juden. Die meisten von ihnen lebten noch in den von der Gestapo geschaffenen „Judenhäusern“ oder in der „Jüdischen Krankenstation“. Eine jüdische Gemeinde gab es seit zwei Jahren nicht mehr. Die Gestapo hatte sie am 10.6.1943 auf Befehl des Reichsinnenministers Himmler aufgelöst.

Jüdische Forderungen


Das Dokument gibt genaue Auskunft über die Motive der Zusammenkunft. Josef Gottlieb (geboren 1883) forderte das „unverzügliche Wiedererstehen“ einer Hamburger jüdischen Gemeinde. Auch müsse dringlich „eine positive Einstellung zum Judentum“ erreicht werden. Insbesondere forderte Gottlieb, die ehemaligen Geld- und Sachwerte des früheren Jüdischen Religionsverbandes Hamburg e. V. zurückzuverlangen und für die neue projektierte Gemeinde sicherzustellen. Ergänzend erwartete er die Zurverfügungstellung von „respectablen und zweckentsprechenden“ Räumen für den Gottesdienst, für eine jüdische Bibliothek und für Lern- und Lehrzwecke. Eine weitere dringende Frage sei die Unterbringung der Juden, die jetzt nach Hamburg zurückkehrten. Hermann Levy (geboren 1897) verlangte ebenfalls für die Unterbringung der jüdischen Häftlinge, die aus Theresienstadt „in die Freiheit nach Hamburg“ zurückgekommen seien, die Schaffung eines neuen Heimes. Die Schwierigkeiten, die genannten Ziele in der Phase des Zusammenbruchs des nationalsozialistischen Staates und der allmählichen Neuorientierung allen gesellschaftlichen Lebens alsbald zu verwirklichen, sahen die Versammelten durchaus.

Die zwölf Anwesenden konstituierten sich als vorläufiger Arbeits-Ausschuss. Dieser sollte sich, unter Hinzuziehung dreier weiterer ehemaliger Gemeindemitglieder, „mit Fragen einer Kulturkommission, des Friedhofes, Gottesdienstes, einer Mazzoth-Kommission befassen“. Die neue Vereinigung solle den Namen „Jüdische Gemeinde Hamburg“ tragen. Die Niederschrift enthält als Verfasservermerk die Namensabkürzung „LE“. Es dürfte sich dabei um das frühere Mitglied der früheren Hamburger Gemeinde Martin Levy-Ehrhard (geboren 1888) handeln.

Die schwierigen Anfangsjahre


In den Monaten Mai und Juni 1945 kamen nicht wenige Juden aus den befreiten Lagern zurück. Sie kamen nach Hamburg, weil dies ihre Heimatstadt war oder weil sie hier überlebende Verwandte oder Bekannte zu treffen hofften, zum Teil aber auch, weil sie die Großstadt mit der Hoffnung verbanden, von hieraus am besten Deutschland verlassen zu können. Außerdem verließen die wenigen, die im Untergrund überlebt hatten – ihre Zahl wird auf etwa 50 geschätzt – ihre Verstecke. Schon in den ersten Monaten nach Kriegsende bildeten sich in Hamburg zwei Hilfsgemeinschaften. Eine erste, offenbar recht aktive Gruppierung war die „Hilfsgemeinschaft der Juden und Halbjuden“. Sie stand unter der Leitung des Rechtsanwaltes Dr. Max Heinemann. Im Sommer 1945 entstand eine weitere Gruppierung „Die aus Theresienstadt“. Im Lager Bergen-Belsen bildete sich etwa zur gleichen Zeit ein „Zentralkomitee der befreiten Juden in der Britischen Zone“. Dieses gewann rasch große Aufmerksamkeit und Unterstützung der internationalen jüdischen Organisationen, wie dem britischen Jewish Committee for Relief und dem American Jewish Joint Destribution Comittee. Die verschiedenen Akteure, ihre unterschiedlichen Aktivitäten und Zielsetzungen führten zu einer unübersichtlichen Situation. In dieser Sachlage war es naheliegend, an eine Wiederbelebung der früheren jüdischen Gemeinde zu denken oder deren Neugründung zu versuchen.

Organisation und Aufgaben der neuen Gemeinde


Ein Anfang war mit dem Treffen der Zwölf am 8.7.1945 gemacht. Am 24. Juli trafen sich sieben von ihnen erneut. Die Lage hatte sich etwas verändert, denn dieses Mal waren erstmals zwei Vertreter des Londoner Jewish Committee for Relief anwesend. Der Kreis der an einer Gemeindegründung interessierten Juden hatte sich inzwischen auf etwa 170 erhöht. Harry Goldstein leitete die Versammlung. Er wurde später für viele Jahre der erste Vorsitzende der Gemeinde werden. Goldstein und der Jurist Dr. Ludwig Loeffler (geboren 1906) sollten einen geschäftsführenden Vorstand bilden. Loeffler lehnte dies ab, regte aber zugleich die Bildung eines geschäftsführenden Ausschusses an, an dem er später auch selber mitarbeiten sollte. Die Beteiligung des Juristen Loeffler erwies sich als eine glückliche Wahl. Im September 1945 trat Loeffler wieder als Beamter in den hamburgischen Staatsdienst ein. 1946 übertrug ihm der Senat der Stadt die Leitung des Amtes für Wiedergutmachung. Mit Loeffler hatte die neugegründete Gemeinde gute Kontakte zur Stadt Hamburg. Zwei weitere Sitzungen im Juli und August 1945 folgten. Versuche, einen Zusammenschluss mit der „Hilfsgemeinschaft der Juden und Halbjuden“ und der „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“ zu erreichen, scheiterten indes. Die Interessen waren in der Tat noch zu unterschiedlich. Der geschäftsführende Ausschuss konzentrierte sich darauf, eine formale Gründungsversammlung vorzubereiten und erste Maßnahmen zur Organisation der Gemeinde zu ergreifen. Eine wichtige Vorentscheidung fällten die Teilnehmer der Sitzung vom 8.8.1945 bezüglich des Charakters der künftigen Gemeinde und der Frage, ob sich diese religiös oder eher religiös indifferent verstehen sollte. Im „Hamburger System“ hatten sich seinerzeit unter dem gemeinsamen Dach der Gemeinde drei unterschiedliche religiöse Kultusverbände selbständig organisieren können. Die vorbereitende Arbeitsgruppe entschloss sich, in Abkehr von der Tradition, die neue Gemeinde ausschließlich als sogenannte Einheitsgemeinde und unter Beachtung der Anforderungen des jüdischen Religionsgesetzes zu reorganisieren. Die Gründe, welche zu dieser durchaus prinzipiellen Entscheidung führten, lassen sich anhand der Quellen nicht unmittelbar erschließen. Es kann angenommen werden, dass bei einer nur geringen Zahl von Gemeindeangehörigen, von der man im Sommer 1945 ausging, der Gedanke bestimmend war, jede Aufsplitterung der Kräfte zu vermeiden. Aber auch die Erwartung der ausländischen Hilfsorganisationen, eine echte jüdische Gemeinde zu unterstützen, mag in dieser Zeit ihre Bedeutung gehabt haben. Als es am 18.8.1945 zur förmlichen Gründungsversammlung kam, war die Frage jedenfalls entschieden. Es wurde ein fünfköpfiger Vorstand gewählt, dem Harry Goldstein dann für zehn Jahre vorstand. Außerdem wurde ein Beirat gewählt, in dem zahlreiche der seinerzeitigen „Gründungsväter“ vertreten waren. Kultuswesen, Bestattungswesen, Fürsorge und Bildungswesen sowie eine Selbstverwaltung, die eine eigene Finanzhoheit und Vermögensverwaltung einschloss, sollten die Aufgaben der künftigen Gemeinde sein. Die Sorge um den Kultus übertrug man allerdings nicht dem Vorstand, sondern einer eigenen Kultuskommission. Das lässt sich, den Zeitverhältnissen folgend, als eine angepasste Variante des „Hamburger Systems“ verstehen. Ein erster Satzungsentwurf vom Oktober 1945 formulierte, dass Mitglied „alle jüdischen Personen mit ständigem Wohnrecht in Hamburg“ werden könnten, die nicht einer anderen Religion angehörten. Das eröffnete auch dem jüdischen Teil einer „Mischehe“ die Mitgliedschaft. Erst die endgültige Satzung von 1946 hob das Erfordernis der Beurteilung nach Maßgabe des jüdischen Religionsgesetzes und das Bekenntnis zum jüdischen Glauben ausdrücklich hervor. Die für eine jüdische Gemeinde bedeutsame Frage nach der Bestellung und Funktion eines hauptamtlich tätigen Rabbiners blieb ebenso unerwähnt, wie die Frage einer Gemeindesynagoge und deren Betreuung. Das unermüdliche Bemühen der Gemeinde, einen Rabbiner an Hamburg zu binden, blieb viele Jahre ohne Erfolg. Für den wöchentlichen Gottesdienst musste man sich mit einem Vorbeter, später mit einem Kantor begnügen. Am 6.9.1945 lud die neue Gemeinde zur feierlichen Eröffnung der Synagoge Kielortallee ein.

Die staatliche Anerkennung der neuen Gemeinde


Die Jüdische Gemeinde befand sich seit ihrer Neugründung in einer instabilen Situation. Diese ist durch eine hohe Auswanderungszahl ihrer Mitglieder und dem von zionistischer Seite erhobenen Vorwurf, wie man als Jude „nach Auschwitz“ in Deutschland, im „Land der Mörder“, noch leben könne, gekennzeichnet. Auf der anderen Seite verhielt sich die britische Besatzungsmacht außerordentlich zögerlich, der reorganisierten Gemeinde die juristisch-förmliche Anerkennung zuzubilligen. Sie befürchtete Wiedergutmachungsansprüche, wenn sie der Gemeinde einen förmlichen Rechtsstatus verlieh. Erst im August 1948 teilte die Militärregierung dem Hamburger Rechtsamt mit, dass keine Bedenken gegen die Anerkennung der Gemeinde als Körperschaft des öffentlichen Rechts bestünden. Daraufhin beschloss die Bürgerschaft am 13.10.1948 ohne Aussprache, der Jüdischen Gemeinde in Hamburg den beantragten Status einer juristischen Person des öffentlichen Rechts durch Gesetz zu verleihen. Die Mitgliederzahl von rund 1.200 stabilisierte sich in den folgenden Jahren. Die Frage „Gehen oder Bleiben“ der Anfangszeit war damit weitgehend entschieden.

Auswahlbibliografie


Ina Lorenz, Wiederaufbau im „Land der Mörder“. Die zwölf „Gründungsväter“ der Jüdischen Gemeinde, in: Linde Apel / Klaus David / Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Aus Hamburg in alle Welt. Lebensgeschichten jüdischer Verfolgter aus der „Werkstatt der Erinnerung“, München u. a. 2011, S. 164–187.
Ina Lorenz, Gehen oder Bleiben. Neuanfang der Jüdischen Gemeinde in Hamburg nach 1945, Hamburg 2002.

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Zur Autorin

Ina Lorenz (1940), Prof. Dr. phil. habil., bis 2005 stellvertretende Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die deutsch-jüdische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts besonders im norddeutschen Raum; Quelleneditionen zu den jüdischen Gemeinden Hamburg, Altona und Wandsbek vom 17. bis zum 20. Jahrhundert sowie Sozial- und Gemeindegeschichte der Juden mit Schwerpunkt NS-Zeit in Hamburg. Auch: http://mitglieder.gegj.de/lorenz-prof-em-dr-ina/

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Ina Lorenz, Der Neuanfang der Jüdischen Gemeinde in Hamburg (1945). Die zwölf Gründungsväter, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 05.07.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-66.de.v1> [19.04.2024].

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