Jacob Sonderling, This is my Life (Memoiren), Los Angeles, 1961-1964 [Auszug], S. 3-5

Deutsche Übersetzung
    Das Digitalisat der Quelle ist unter www.americanjewisharchives.org/german-jewish-history/ einsehbar.

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    1907. Ich wurde zum Rabbiner des Solomon Tempels in Hamburg auserwählt, der
    Wiege der weltweiten Reformbewegung. Dort begann ich als
    Rebell. Der Tempel von 1818 hatte den Titel Rabbiner aufgegeben, welcher
    in jenen Tagen in Verruf geraten war, und stattdessen wurde der Titel Prediger getragen.
    Ich, ein junger Mann, protestierte und bestand darauf, Rabbiner zu werden, und schließlich
    wurde ein Kompromiss geschlossen und wir trugen den Titel Rabbiner und
    Prediger. Jene Jahre in Hamburg werde ich nie vergessen. Es gab
    Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Es gab Probleme, die ich nicht lösen konnte.
    Zu dieser Zeit durchlebten wir den Sturm und Drang der
    Selbstfindung – was sind wir, ein Volk oder eine Religion – und das offizielle
    Judentum bestand darauf, dass wir kein Volk seien, sondern NUR eine Religion.


    Es geschah 1909, als der Zionistenkongress Das stenographische Transkript kann bei Compact Memory eingesehen werden: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/3476272 in Hamburg abgehalten wurde
    und Max Nordau in seiner Kritik der Reformbewegung öffentlich sagte–
    „Was haben sie getan, die Reformer? Sie haben aus Synagogen
    Tempel gemacht, Kirchen ohne Kreuz.“ Am folgenden Samstag
    griff ich den Stier bei den Hörnern und sagte in meiner Predigt, „Ich stimme nicht mit
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    meinen anderen Kollegen im Reich überein. Natürlich sind wir ein Volk.“ Die anwesenden Vorstandsmitglieder
    fielen fast in Ohnmacht und sprachen nach der Predigt meinen dreißig Jahre älteren Kollegen
    darauf an, „Sind Sie der gleichen Meinung?“ und
    er sagte, „Wir sind kein Volk. Wir sind deutsche Staatsbürger jüdischen
    Glaubens.“ Und ich antwortete, „Sie haben Recht. Alle Ungarn, die
    nach Deutschland kommen, sagen das Gleiche.“


    1914. Der Erste Weltkrieg. Ich hatte Emil G. Hirsch, den
    berühmten Rabbiner aus Chicago, in der Schweiz getroffen, und er hatte prophezeit, „Eines
    Tages wirst du nach Amerika kommen.“ Wenige Wochen nach
    Kriegsbeginn fand ich meine Einberufung auf dem Schreibtisch vor und wurde
    zum Generalstab Feldmarschall von Hindenburg abgeordnet.
    Dann passierte etwas. Herman Cohen, der berühmte Philosoph und mein
    Lehrer, schrieb mir – „Ich sollte Ihren Brief beantworten. Da ich keine
    einzige Zeile von Ihnen erhalten habe, muss ich schreiben, um eine Antwort zu erhalten.“
    Ich schrieb zurück – „Glauben Sie mir, lieber Lehrer, es ist keine Vernachlässigung.
    Ich bin Ihr Schüler gewesen, habe Ihre Sprache gesprochen, gewissermaßen Ihre Gedanken gedacht
    – Ihr Alter Ego.“ Doch etwas geschah. Wir überquerten
    die Grenze von Deutschland nach Litauen – alles ging drunter und
    drüber – „Ich weiß nicht, wo ich stehe. Wenn ich wieder ich selbst bin, werde ich
    Ihnen schreiben.“ Ich habe es nie getan.


    Hier traf ich zum ersten Mal Menschen, die nicht versuchten, zu
    definieren, was sie sind. Sie waren Juden, man brauchte keine
    Predigten, um an ihr Jüdischsein erinnert zu werden. Hier fand ich Geisteswissen,
    das nicht auf einen Berufszweig beschränkt war, Würde und innere
    Unabhängigkeit. In Deutschland wurden wir stets eingeordnet, Orthodoxe,
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    Konservative, Reformierte. Hier wurde ich als Jude ohne
    Attribute akzeptiert. Hier, umgeben von diesen Menschen, erhielt ich die Antworten auf meine
    Fragen. Es ist mehr als ein Witz, und bis zum heutigen Tag möchte ich
    Litauer sein, falls ich jemals wiedergeboren werde. Diese vier Jahre in
    Russland machten einen Juden aus mir, und als ich nach der Niederlage Deutschlands nach Hause kam,
    konnte ich nicht mehr predigen. Mein Vorstand kam und beschwor mich – „Rabbiner, wir
    haben vier Jahre lange auf Sie gewartet und für Sie gebetet.“ Ich sagte, „Ich
    kann nicht bleiben – ihr seid tot – ich will leben.“


    Und so eröffnete sich mir 1923 ein neues Leben – Amerika. []


    Quellenbeschreibung

    Der gewählte Ausschnitt der autobiographischen Skizzen des zwischen 1908 und 1922/23 in Hamburg tätigen Rabbiners Dr. Jacob (Jakob) Sonderling (1878-1964) gibt Einblick in ein durch Migration und die Suche nach Zugehörigkeiten geprägtes Leben. Thematisiert werden insbesondere diejenigen Aspekte Sonderlings transnationaler Biographie, die im engen Zusammenhang mit seinen Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs stehen; diese intensivierten nicht nur Sonderlings wiederkehrende Reflexionen über eine adäquate Definition des Jüdischseins, sondern begünstigten zugleich seine Entscheidung, 1923 in die USA zu emigrieren. Die Niederschrift der Entwürfe für Sonderlings geplante, aber nur in posthumen Auszügen veröffentlichte Autobiographie „This is my Life“ erfolgte zwischen 1961 und 1964 in Los Angeles. Sie befindet sich in seinem persönlichen Nachlass am Jacob Rader Marcus Center der American Jewish Archives in Cincinnati, Ohio (USA). Die autobiographischen Entwürfe sind teilweise um handschriftliche Notizen Sonderlings ergänzt oder enthalten nachträgliche Korrekturen.
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    Empfohlene Zitation

    Jacob Sonderling, This is my Life (Memoiren), Los Angeles, 1961-1964 [Auszug], S. 3-5 (übersetzt von Insa Kummer), veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-83.de.v1> [28.03.2024].