„Der Feind ist im Land: Der Jude“. Klebemarken des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes

Martin Ulmer

Quellenbeschreibung

In der Sammlung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg befinden sich zahlreiche antisemitische Klebemarken des großen Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes (DSTB) aus den Jahren 1919 bis 1922, die Ausdruck einer neuartigen Strategie der Straßenagitation mit Massenkommunikationsmitteln wie Marken, Handzetteln und Flugblättern waren. Einer der Produzenten war dessen Hauptgeschäftsführer Alfred Roth. Allein im ersten Halbjahr 1920 verteilten die Ortsgruppen des DSTB und ihre Anhänger reichsweit über zwei Millionen Flugblätter und befestigten 4,4 Millionen Klebemarken. Sie wurden in Hamburg hergestellt und waren meist rechteckig (durchschnittliche Breite 5 cm und Höhe 3–4 cm). Sie fielen durch Farbigkeit und grafische Elemente auf. Diese Klebemarken tauchten – oft anonym angeklebt – auf Straßenlaternen, Litfasssäulen, Bahnhöfen oder auf Fenster von Geschäften sowie als Aufkleber auf Briefumschlägen auf. Das breite antijüdische Themenspektrum sprach die verschiedensten Zielgruppen der deutschen Gesellschaft an. Die beigefarbene Klebemarke bemüht eine polemische Aussage des Reformators Martin Luther, um das protestantische Milieu zu erreichen. Der Aufkleber „60 Milliarden Vermögen“ greift die Arbeiterparteien an, die angeblich die jüdischen Bankiers vor der Verstaatlichung schützen würden. Das nationale Bürgertum sollte mit dem rötlichen Aufkleber „Juden und Judentzer“ (Judenfreunde) vor der Wahl von demokratischen und sozialistischen Parteien gewarnt werden. Die blaue Klebemarke warnt mit militanter Formel, die die Dichotomie von Deutschtum gegen das Judentum betont, vor dem internationalen Feind im Land.
  • Martin Ulmer

In der antisemitischen Weltanschauung des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes galt der Bolschewismus, Materialismus und der Finanzkapitalismus als Werkzeug der jüdischen Weltherrschaft, um angeblich die Christen und Nichtjuden gewaltsam zu bekämpfen und zu unterdrücken. Verschiedene klassische antijüdische Stereotype wie Rachsucht, Gier, Blutdurst, Betrug, Täuschung, Manipulation, Heimatlosigkeit, Gewalttätigkeit oder Begriffe wie Juda fungierten dabei als Signalwörter im zeitgenössischen Kontext. Mehrere sprachliche Stereotype, die zuweilen mit visuellen Stereotype von Juden mit Hakennase zum Beispiel von Ostjuden, dicken Kapitalistentypen mit Zigarre oder jüdischen Linksintellektuellen mit Nickelbrille kombiniert wurden, verdichteten die extreme Botschaft der Stereotype: Juden seien gefährliche Feinde Deutschlands und der Menschheit.


Berühmte Kronzeugen zur Legitimation der Judenfeindschaft


Die führenden Antisemiten bedienten sich dabei häufig prominenter Kronzeugen, um die Juden zu diffamieren und vor ihnen zu warnen. Die Klebemarke „Luther sagt über die Juden“ ist ein Beispiel dafür. Sie stammt aus einer Serie, die neben den bekannten Judenfeinden wie Paul de Lagarde, Eugen Dühring, Richard Wagner und Johann Gottlieb Fichte, auch Napoleon I., Johann Wolfgang Goethe und den Aufklärer Voltaire zur Legitimation der antisemitischen Aussagen bemühte. Die aggressive Textstelle von Luther über das angeblich „blutdürstigste und rachgierigste Volk“ der Juden, dass die Heiden morden würden, ist dem Pamphlet „Von den Juden und ihren Luegen“ von 1543 aus der späten judenfeindlichen Ära von Luther entnommen. Durch die grafische Betonung in Fettdruck und dem Superlativ werden traditionelle hasserfüllte Stereotype gegen Juden, der ihnen unterstellte Blutdurst und die Rachsucht im Zitat unterstrichen. Deswegen würden die Juden als Gefahr für die Menschheit gelten. Luther war als Begründer des Protestantismus und Kirchenreformator in Deutschland das große Idol des national-protestantischen Milieus im 19. und 20. Jahrhundert. Auf diese hohe Popularität Luthers und seiner glaubwürdigen judenfeindlichen Haltung zielt die Auswahl dieser Luther-Stelle. Kombiniert wird dieses Zitat mit radikal-antisemitischen weltanschaulichen Interpretationen zur demokratischen Novemberrevolution und den kommunistischen Aufständen in der ersten Phase der Weimarer Republik: „Der Bolschewismus ist Judas Rache an den Christen.“


Das Vorurteil vom „jüdischen Kapital“


Die Klebemarke „60 Milliarden Vermögen“ bediente den klassischen Vorwurf der angeblich weltbeherrschenden Macht des jüdischen Kapitals in Gestalt der Bankiersfamilie Rothschild und allgemein der von Juden geleiteten Großbanken. Die Kapitalismuskritik des DSTB nahm im Gegensatz zum reellen Industriekapitalismus nur das angeblich betrügerische jüdisch beherrschte internationale Finanzkapital ins Visier. Dieser Kampf war eins der wichtigsten Agitationsthemen der völkischen Bewegung einschließlich der aufstrebenden Nationalsozialisten in der Weimarer Republik. Die durch die Novemberrevolution 1918 regierende Arbeiterpartei SPD würde das Bankensystem und deren hohes Vermögen vor der Verstaatlichung verschonen, weil die SPD – so die unterschwellige Botschaft – eine judenfreundliche Partei mit zahlreichen Juden in ihren Reihen sei. Das „jüdische Kapital“ in Deutschland und in der Welt würde die neue Republik und ihre politischen Repräsentanten beherrschen. Dieser Vorwurf setzte hinsichtlich der Zielgruppe auf Spaltung, das heißt es galt den Arbeitern die Augen über die judenfreundliche Politik der SPD-Parteiführung zu öffnen, denn der Verzicht auf die auch von der Sozialdemokratie geforderte Verstaatlichung solcher Banken sei nicht im Interesse der Anhänger. Der auf einen Briefumschlag fixierte Aufkleber zeigt die antisemitische Absicht des Absenders und will den Empfänger und Postboten erreichen.


Antisemitische Wahlempfehlungen


Die rote Klebemarke „Juden und Judentzer“  Judentzer ist ein Begriff der einschlägigen Schriften aus dem Mittelalter. fordert die Menschen auf, Juden und Judenfreunde nicht in den Reichstag zu wählen. Damit spielt die Botschaft auf die radikal-antisemitische Vorstellung an, Deutschland sei seit der Errichtung der Republik 1918/19 von Juden und Ihren Anhängern beherrscht. Im Vorfeld der Richtungsentscheidenden Reichstagswahl im Juni 1920 gab der Deutschvölkische Schutz- und Trutz-Bund eine klare Wahlempfehlung, solche angeblich jüdisch orientierten demokratischen und linken Parteien, das heißt SPD, DDP und der KPD abzulehnen. Zugleich ist es ein Aufruf, die rechtsorientierten Parteien, das heißt vor allem die antirepublikanische, nationalistische und antisemitisch orientierte DNVP zu wählen. Wahlgewinner war 1920 vor allem diese Partei, während das republikanische Lager (SPD, DDP und Zentrum) seine deutliche Mehrheit von 1919 verlor.


Kampfbegriff „Der Jude“


Die bläuliche Klebemarke „Der Feind ist im Land: Der Jude“ ist grafisch wie inhaltlich ein besonders militantes und wirksames Signalmedium. Hier wird die Kernbotschaft „Der Jude“ durch eine vergrößerte Schrift hervorgehoben und auf kurze Aussagen reduziert. Aufgrund der typografischen Gestaltung wird eine sekundenschnelle Wahrnehmung und hohe Aufmerksamkeit erzielt. Der Inhalt beschwört die nationalistische Dichotomie von Deutschtum gegen Judentum: Der internationale Feind, der verschwörerische Jude, stehe in Deutschland und wolle es zerstören und vernichten. Zur Dramatisierung dient der militante Kampfbegriff „Der Jude“, der eine bekannte Synekdoche  Ersetzung eines Wortes durch einen Begriff aus demselben Begriffsfeld ist, die radikale Antisemiten wie Theodor Fritsch, Alfred Roth, Joseph Goebbels, Adolf Hitler vielfach benutzt haben. Diese Synekdoche  Ersetzung eines Wortes durch einen Begriff aus demselben Begriffsfeld bedeutete die extremste Diffamierung des Judentums, denn in dieser Anonymisierung einer sozialen Gruppe wurde den Juden jede menschliche Eigenschaft und Individualität abgesprochen. Damit transportiert dieser Begriff zugleich eine unterschwellige Botschaft: Gegen einen so gefährlichen verschwörerischen Feind, der in Deutschland zerstörerisch wirke, sind alle Abwehrmaßnahmen gerechtfertigt.


Der politische Kontext der Klebemarken


Die Themen und Inhalte der Masse der Klebemarken kreisten um die zentrale Botschaft einer in der Novemberrevolution 1918 angeblich errichteten „Judenherrschaft“ in Deutschland. Diese paktiere mit den „verjudeten“ Feinden bei den Westalliierten, dem internationalen Finanzkapital und dem jüdischen Bolschewismus. Das vorrangige Ziel sei die Versklavung und Vernichtung Deutschlands auf dem Weg zur jüdischen Weltherrschaft. Geschichtspolitisch sahen die Antisemiten das international agierende Judentum hauptverantwortlich am Kriegsausbruch 1914 und der Niederlage Deutschlands. Darin ist die Legende vom Dolchstoß zu erkennen. Dieser Dolchstoß der „verjudeten“ Parteien (Sozialdemokratie, Demokraten) und Regierungen, der zur Kriegsniederlage Deutschlands und zur Auslieferung an die von Juden geführten Feinden geführt hätte, sei das „Teufelswerk“ der internationalen Juden im Inland und Ausland gewesen. Die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Krisenerscheinungen der Nachkriegszeit wurden in einem zentralen Feindbild gebündelt. Nun galt es in einem beispiellosen Propagandafeldzug der antisemitischen Bewegung die Hauptschuldigen allen Übels zu entlarven und zu besiegen, denn viele Deutsche würden diese angebliche Machtübernahme des Judentums und die jüdische Manipulationen nicht durchschauen. Wie bereits in der antisemitischen Weltanschauung während des Kaiserreichs, in der die negativen Phänomene auf die Juden projiziert wurden, wurden die Juden für die Revolutionen in Russland und Deutschland, die Inflation und Not, die Ausbeutung durch das Kapital, die Zuwanderung der Ostjuden, die Sozialdemokratie, den Versailler Vertrag und internationale Konferenzen, Abkommen und Reparationen verantwortlich gemacht. Allerdings offenbarten sich im historischen Kontext der Kriegsverwerfungen und der Neuordnung Europas nach 1918 sowie der immensen Popularität der „Protokolle der Weisen von Zion“ in diesem Weltbild immer mehr wahnhafte Züge einer großen jüdischen Weltverschwörung, deren wichtigstes Angriffsziel Deutschland sei, denn „Der Feind ist im Land“. Die Agitation führte das ideologisch konstruierte Macht- und Gewaltstreben und die Profitgier der Juden auf die angeblich „minderwertige aber gefährliche jüdische Rasse“ und auf das hartnäckige Festhalten der Juden an ihren traditionellen Überlieferungen vor allem im Talmud und im Alten Testament zurück, wie zum Beispiel im Aufkleber mit dem Luther-Zitat unterstellt wird. Damit integrierte der Verschwörungsantisemitismus die klassischen Stereotype der religiösen Judenfeindschaft in dieses wahnhafte Weltbild.


Klebemarken als massenwirksame Agitation


Die millionenfach verbreiteten Klebemarken und Flugblätter des DSTB waren populäre Massenkommunikationsmedien im politischen Kampf gegen das Judentum. Im klassischen Muster der Täter-Opfer-Umkehrung wurde die militante Agitationshetze gegen die jüdische Herrschaft zur berechtigten Notwehr stilisiert und zum gerechten Abwehrkampf für deutsche Interessen und das eigene Überleben rationalisiert und somit ideologisiert. Zur höheren Glaubwürdigkeit wurden jüdische Kronzeugen zitiert und sich auf Deutschlands berühmte Persönlichkeiten berufen, wie Martin Luther oder Ferdinand Lassalle, um möglichst viele Kreise im Bürgertum und in der Arbeiterschaft zu erreichen.

In formaler Hinsicht wurden die radikalen Aussagen der Klebemarken durch damals moderne Gestaltungselemente unterstützt, um bei einem breiten Publikum höhere Aufmerksamkeit zu erzeugen: Das erste Element war ihre leuchtende Farbigkeit. Das zweite Element betrifft die Gestaltung der Textform wie Fettdruck der Überschriften und einzelner Wörter mit Signalfunktion: „Luther sagt...“, „60 Milliarden“, „Juden und Judentzer“, beziehungsweise die Zuspitzung wie: „Der Jude“. Bei einer Reihe von Klebemarken wurde drittens die Aussagen in minimalistischer Weise auf Handlungsanstiftende Schlagworte und Parolen reduziert: „Lest keine Judenbücher!“, „Kauft nicht bei Juden!“ oder „Juden raus!“.

Diese aktuellen, billigen und schnell zu produzierenden Massenkommunikationsmittel im modernen Stil verdichteten den radikalen Antisemitismus in eine leicht konsumierbare Informationsware von Schlagworten und Phrasen, die potentiell alle Menschen auf der Straße und in öffentlichen Einrichtungen erreichten, auch wenn die Klebemarken schnelllebig waren, da sie häufig entweder entfernt oder auch überklebt wurden. Diese militante Agitation blieb aufgrund der neuen alltagskulturellen Massenpräsentation nicht mehr auf die klassische nationale Leserschaft und Teile des Bildungsbürgertums beschränkt. Die modern gestalteten Klebemarken, Flugschriften und kleinen Handzettel mit markanten Hassparolen und Spottkarikaturen erreichten weitaus mehr Bevölkerungsgruppen als im Kaiserreich. Für die Ausbreitung eines radikalen Antisemitismus in zahlreiche Gesellschaftsschichten, die eher von antijüdischen Latenzen und Ressentiments als von einem gefestigten antisemitischen Denken geprägt waren, stellten diese Formen ein ideales Medium dar, weil sie auf der formalen Ebene einem bequemen Rezeptionsbedürfnis entgegenkamen und auf der inhaltlichen Ebene an Alltagserfahrungen oder an wirtschaftliche und politische Probleme anknüpften und durch simplifizierende, verzerrende Erklärungsmuster und Lügen zu antisemitischen Generalisierungen führten. Diese propagandistische Besetzung des öffentlichen Raums durch millionenfach verklebte Klebemarken und verteilte Flugblätter und Handzettel war neu und förderte im erheblichen Maße den Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft.

Auswahlbibliografie


Isabel Enzenbach/Wolfgang Haney, Alltagskultur des Antisemitismus im Kleinformat. Vignetten der Sammlung Wolfgang Haney ab 1880, Berlin 2012.
Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes 1919–1923, Hamburg 1970.
Martin Ulmer, Flugblätter des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes (1919–1922), in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 6: Publikationen, Berlin u. a. 2013, S. 202–207.

Dieser Text unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf er in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.

Zum Autor

Martin Ulmer, Dr. rer. soc., Kulturwissenschaftler und Historiker, er ist Geschäftsführer des Gedenkstättenverbunds Gäu-Neckar-Alb e.V., und Lehrbeauftragter an der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Antisemitismus-Forschung, Nationalsozialismus, jüdische Geschichte und Erinnerungskultur.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Martin Ulmer, „Der Feind ist im Land: Der Jude“. Klebemarken des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-112.de.v1> [28.03.2024].

Dieser Text unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf er in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.