Jüdische Kunst? Anita Rée und die Neue Sachlichkeit

Maike Bruhns

Quellenbeschreibung

Das Gemälde „Weiße Bäume in Positano“ aus dem Jahr 1925 kann als das wichtigste Werk Anita Rées während ihrer italienischen Jahre gelten. Anfang der 1920er-Jahre hatte die Hamburger Malerin einige Jahre in dem italienischen Ort Positano verbracht. Dort befasste sie sich mit der Architektur des Bergnests, mit der Landschaft und den Einwohnern, die sie in Einzelporträts und Volksleben-Bildern fixierte. Begeistert von der Quattrocento-Malerei, besonders von den Fresken Piero della Francescas in Arezzo, fand sie schließlich zu einem ausgeprägt neusachlichen Stil. Die „Weißen Bäume in Positano“ zeigen eine Straße, die sich in einer engen Kurve als Brücke einen Abhang hinauf und hinter Bauten hindurchschlängelt. Das Szenario wird von Mauern begrenzt. Das Werk bildet einen Höhepunkt in der Reihe der Positano-Ansichten, war zeitgenössisch aber umstritten. An der Überlieferungsgeschichte des Bildes, das lange Zeit als verschollen galt, deutet sich das Schicksal Anita Rées an, die – obwohl sie sich selbst nie als Jüdin verstanden hatte – der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik zum Opfer fiel. Heute befindet sich das Gemälde in der Hamburger Kunsthalle.
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Biografie der Malerin


Die Malerin Anita Rée stammte aus einer assimilierten jüdischen Kaufmannsfamilie in Hamburg. Sie wurde getauft und konfirmiert und besuchte die höhere Töchterschule. Ihre künstlerische Ausbildung begann sie 1905 mit Freilichtmalerei bei dem Hamburger Maler Arthur Siebelist. Nach einem Vorstellungsbesuch bei Max Liebermann in Berlin (1906), der ihr Talent erkannte und sie zum Malen ermutigte, folgte bis 1910 weiterer Unterricht bei Siebelist. Danach arbeitete sie eine Zeit mit den Kollegen Friedrich Ahlers-Hestermann und Franz Nölken in dessen Atelier am Berliner Tor. Beide waren in Paris gewesen, berichteten begeistert von den neuesten Kunstströmungen und weckten bei ihr die Sehnsucht, sich selbst dort mit der Moderne in der Malerei vertraut zu machen und fortzubilden. Es gelang ihr, 1912/13 zeichnete sie in Paris (vermutlich) bei Fernand Léger. Nach der Rückkehr arbeitete sie im Atelier von Ahlers-Hestermann und begann mit Cézanne- und Picasso-angenäherter Malerei und mit kubistisch-expressiven Versuchen. 1916 hielt sie sich in einer Erholungsstätte in Blankenhain in Thüringen auf, die der Kunsthistoriker Carl Georg Heise und sein Freund Hans Mardersteig für Künstler errichtet hatten. Als sich nach Kriegsende 1919 in Hamburg eine Sezession etablierte, gehörte sie zu den Mitbegründern. Die Hamburgische Sezession entwickelte sich zu einer elitären Künstlergruppe und präsentierte in jährlichen Ausstellungen die neuesten Arbeiten. Ein Jahr nach einem Malaufenthalt im österreichischen Grins in Tirol (1921) ging sie nach Positano in Italien, wo sie bis 1925 blieb und für sich allein arbeitete. Das anmutige, abgelegene Fischerdorf am Golf von Salerno war ein Geheimtipp für Literaten und Maler. Wie ihre Arbeiten erkennen lassen, besuchte sie außerdem verschiedene Kunst- und Kulturstätten Italiens, sie war in Rom, Ravenna, Süditalien und Sizilien, teils in Begleitung anderer Künstler oder Freunde.

Nach der Rückkehr stellte sie ihre Arbeiten 1926 in der Kunsthandlung Commeter aus und wurde schlagartig eine bekannte Künstlerin in Hamburg. Sie befand sich auf dem Höhepunkt ihrer künstlerischen Laufbahn. Mehrere Porträtaufträge sprechen für die Wertschätzung der Gesellschaft. 1926 gründete sie mit Ida Dehmel die Gedok (Gemeinschaft deutscher und oesterreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen). Oberbaudirektor Fritz Schumacher verschaffte ihr zwei Aufträge für Wandbilder in Hamburger Schulneubauten (1929 Schule Uferstraße, 1931 Schule Caspar-Voght-Straße), die evangelische Kirche einen für ein Altarretabel mit fünf Tafeln in der St. Ansgar Kirche in Langenhorn. 1931 unternahm sie eine weitere Reise nach Positano in Begleitung ihrer Freundin und Gönnerin Valerie Alport. Zu dieser Zeit hetzten völkische und rassistische Kreise bereits gegen sie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung, gegen ihre Wandbilder und den Auftrag für die Kirche in Langenhorn. Dies, obwohl Anita Rée evangelischen Glaubens war. Nationalsozialisten argumentierten, dass eine Jüdin kein christliches Retabel malen könne. Der Kirchenrat knickte ein. Die Gemeinde bekam das Werk nie zu Gesicht. Es wurde an die Nikolaikirche am Hopfenmarkt verschenkt und verbrannte dort 1943 auf dem Kirchenboden. 1932 verließ Anita Rée fluchtartig ihre Heimatstadt und zog nach Sylt. Vereinsamt, von Ängsten geplagt und psychisch ausgebrannt nahm sie sich am 12.12.1933 in Kampen das Leben.

„Weiße Bäume in Positano“: Bildbeschreibung und Rezeption


Unter den 190 Gemälden ihres Werks hielt Anita Rée „Weiße Bäume in Positano“ (1925) für das wichtigste der italienischen Jahre. Es bildet einen Höhepunkt in der Reihe der Positano-Ansichten. In einer engen Kurve schwingt hier eine Straße als Brücke einen Abhang hinauf und hinter Bauten hindurch. Mauern grenzen sie ein. Im Vordergrund nimmt eine weitere Mauer den Tiefenzug auf und führt zum rechten Rand. Am Hang staffeln sich Bauten, einfache kubische Häuser mit Fenster- und Türöffnungen und kleinen Lichtluken, durch flache Kuppeln abgeschlossen. Im Hintergrund befinden sich Häuser und Gartenanlagen, erkennbar heraus gearbeitet ist allein das Haus oberhalb der Kurve. Die kubischen Bauten wirken karg und orientalisch, sie sind geringfügig aus der Vertikalen geneigt, so dass ein Eindruck von Alterung und Leerstand entsteht, worauf auch die geschlossenen Läden vorn weisen. Grauweiße Nussbäume überragen die Bauten, ihre winterkahlen gekrümmten Äste verflechten sich am oberen Bildrand zu einem dichten Gewebe. In den Gärten des Hintergrunds wachsen Palmen und Opuntien. Natur scheint hier gegen Menschenwerk anzutreten, die Bäume überragen nicht nur die Häuser sondern dominieren optisch, „verklammern“ die Architektur. Kleine Treppen, die auf Mauern oder ins Nichts führen, offen stehende Fenster und Türen, eine an die Mauer gelehnte Leiter, eine Andachtsstelle mit Madonnenfigur an der Straßenkurve zeugen von Bewohnern, doch ist das Bild selbst menschenleer. Im Farbauftrag und in der Lichtführung entwickelt Anita Rée hier einen neusachlichen Stil eigener Prägung. Kein Pinselzug zeigt sich in dem glatten Farbauftrag. Weiß-, Grau- und helle Braunbeigetöne herrschen vor. Nur wenige zarte Akzente, ein blauer Baum-Schatten, eine blaugrüne oder rotbraune Tür, ein gelbes Gesims, grüne Palmwedel im Hintergrund lockern unmerklich auf, verursachen eine leise Spannung. Scheinwerferartiges Licht von rechts schärft die Formen und Konturen der Mauern, Bauten und Bäume zu einer formalen Härte ohne gleichen, ähnlich einer fotografischen Scharfstellung. Die Szene wirkt winterlich erstarrt, fast gefroren und in ihrer überzogenen Realistik magisch. Ein Vergleich mit einem vorbereitenden Aquarell zeigt die Aufnahme zusätzlicher Elemente und Verdichtung zu einer komprimierten Komposition. Die Aktivität der Malerin selbst bleibt unsichtbar. „Werk und Betrachter stehen einander isoliert gegenüber [...] Diese andere Form der Provokation, diese bedingungslose Nüchternheit, die muss man aushalten können“, konstatiert Annegret Ehrhard Annegret Erhard, Anita Rée – Der Zeit voraus. Eine Hamburger Künstlerin der 20er Jahre, Berlin 2013, S. 54 2013.

In Hamburg fand das Positano-Bild zwiespältige Rezeption. Fachleute wie Kunsthallendirektor Gustav Pauli und seine Frau Magdalena begeisterten sich 1926 für das Gemälde, der Kunsthistoriker Aby Warburg hielt es für das beste der Ausstellung „Hamburger Kunst“. Die Jury unter Vorsitz von Friedrich Ahlers-Hestermann lehnte das Bild indessen ab und kritisierte „affektierte, altmeisterliche Härte“. Wegen Abwesenheit hatte Anita Rée es nicht verteidigen können. Sie reagierte beleidigt, stellte in der Folgezeit kaum mehr mit der Sezession aus, überwarf sich auch mit Ahlers-Hestermann. Die alte Freundschaft erlitt durch die konservative Haltung nachhaltigen Schaden.

Der lange Weg bis in die Hamburger Kunsthalle


Der weitere Weg des umstrittenen Bildes verlief abenteuerlich und typisch für die NS-Zeit. Die Künstlerin hatte es testamentarisch dem Arzt und bekannten Anästhesisten Dr. Ernst von der Porten und seiner Frau Frieda, ihrer Freundin „Fridjof“ vermacht. 1935 teilten sie Carl Georg Heise mit: „Wir haben unser Ölbild jetzt gehängt und haben sehr viel Freude daran.“ 1938 emigrierte das jüdische Ehepaar nach Brüssel. Beide wurden nach der deutschen Besetzung von der belgischen Polizei inhaftiert, Ernst später ausgewiesen und in Frankreich in das Lager St. Cyprien deportiert. Seine Frau folgte ihm freiwillig dorthin, da er wegen Typhusgefahr und nach einem missglückten Suizidversuch im Spital lag. Am 13.12.1940 nahm sich das Ehepaar, das keine Zukunft mehr für sich sah, im Krankenhaus in Perpignan das Leben. Das Gemälde blieb verschollen, die einzige Überlebende der drei Töchter, Dr. Gerda Ottenstein (1912–1988), konnte der Autorin in den 1980er-Jahren nichts über seinen Verbleib mitteilen, hatte es auch im Wiedergutmachungsverfahren nicht angeführt. Jahrzehnte später tauchte das Bild 2011 beim Auktionshaus Villa Grisebach in Berlin auf. Eine alte Dame hatte es aus der Erbschaft ihres Mannes einem belgischen Kunsthändler in Antwerpen für wenig Geld überlassen. Wie Recherchen des niederländischen Historikers Lucas Bruijn ergaben, hatte Frieda von der Porten vor der Flucht aus Belgien einige Dinge auf Lager gegeben, darunter vermutlich auch das Bild. Wegen seiner ungeklärten Provenienz zog Grisebach das Werk von der Auktion zurück. Die Besitzer ließen es ein Jahr später am 23.6.2012 bei Beurrett und Bailly in Basel für die märchenhaft dreifache Summe des angesetzten Preises (129.126 Euro) versteigern. Unter nochmaliger Erhöhung des Erwerbspreises gelangte es einige Zeit später in die Hamburger Kunsthalle. Nach 90 Jahren fand es 2013 seinen gebührenden Platz, heute zählt es zu den Glanzstücken der Neuen Sachlichkeit im Museum. Es zeugt zugleich vom Schicksal der unglücklichen Malerin und ihrer Erben.

Anita Rée, eine jüdische Malerin?


Drei Jahre nach Anita Rées Tod ergab sich eine Kontroverse um die Frage Judentum und Kunst. Der mit Anita Rée befreundete Kunsthistoriker Carl Georg Heise beabsichtigte 1936, eine Gedächtnispublikation mit Beiträgen ihrer Freunde herausbringen. Bei der Vorbereitung dazu entstand eine Situation, die ein bezeichnendes Licht auf die Zeit, aber auch auf Anita Rées persönliche Einstellung wirft. Sie war christlich erzogen und aufgewachsen, gehörte der Hamburger Gesellschaftsschicht hochgradig assimilierter, sogenannter „Pöseldorfer Juden“, an, benannt nach dem gutbürgerlichen Hamburger Stadtteil, in dem sie lebten. Wie ihre Freunde Maria Wolff-Elkan und Carl Georg Heise 1935 und 1936 erwähnten, war sie antisemitisch eingestellt und wünschte „ausdrücklich nicht zur jüdischen Gemeinschaft gerechnet zu werden“. Dr. Franz Landsberger, der Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, hatte 1936 einige Werke aus dem Rée-Nachlass von Valerie Alport erbeten und erhalten. Als er die Bilder im Jüdischen Gemeindeblatt Berlin nicht nur abbildete, sondern auch als Nachweis künstlerischer Kraft und Stärke des Judentums präsentierte, löste er bei Anita Rées jüdischen und nichtjüdischen Freunden helles Entsetzen aus. In der für Menschen jüdischer Abstammung heiklen und gefahrvollen NS-Zeit war sie damit für das Judentum vereinnahmt und zu einer jüdischen Künstlerin gestempelt worden, obgleich sie sich nicht als jüdisch verstand und für ihre religiösen Bilder ausschließlich neutestamentarische Themen gewählt hatte. Den Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit hatte sie auf den Anschluss und die Entwicklung der Kunst-Moderne gelegt.

Das Gedenkbuch konnte in den 1930er-Jahren deshalb nicht mehr erscheinen, erst 1968 wurde es realisiert. Bald darauf erschien 1986 die Monografie über ihr Leben und Werk und seitdem nahm die Rezeption der Bilder stetig zu. Heute zählt die Malerin zu den angesehensten des frühen 20. Jahrhunderts in Hamburg. Eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle (2017) und ein überarbeitetes, komplettiertes Werkverzeichnis befinden sich in Vorbereitung.

Auswahlbibliografie


Thomas Auwärter, Kein Heimatrecht im Reich der Kunst? Anita Rée, eine christliche Künstlerin jüdischer Herkunft, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 2 (2015).
Maike Bruhns, Anita Rée – Leben und Werk einer Hamburger Malerin 1885–1933, Hamburg 1986. 2. veränd. Auflage 2001.
Christian Fuhrmeister, Anita Rée. Werk statt Vita, in: Künstlerinnen der Avantgarde in Hamburg zwischen 1890 und 1933, Bd. 1, Kat. Hamburger Kunsthalle, Bremen 2006, S. 103–129.
Carl Georg Heise/Hildegard Heise (Hrsg), Anita Rée. 1885 Hamburg 1933. Ein Gedenkbuch von ihren Freunden. Beiträge von Carl Georg Heise, Friedrich Ahlers-Hestermann, Fritz Schumacher, Gustav Pauli, Hamburg 1968.
Michael Goerig/Lucas Bruijn, Ernst von der Porten – Spurensuche vor und nach der erzwungenen Emigration, in: Der Anaesthesist 10 (2014), S. 766–774.

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Zur Autorin

Maike Bruhns, Dr., studierte von 1960-1964 Germanistik und Kunstgeschichte an den Universitäten München und Hamburg und promovierte 1986 zu Anita Rée. Sie kuratierte mehrere Ausstellungen, u.a. Kunst in der Krise, Hamburg 2001 (7 Stationen in Deutschland), Nachtmahre und Ruinenengel. Hamburger Kunst 1920 bis 1949. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Kunst im Dritten Reich und Kunst nach 1945.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Maike Bruhns, Jüdische Kunst? Anita Rée und die Neue Sachlichkeit, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 06.12.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-106.de.v1> [29.03.2024].

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