Erzählte Geschichte – geschichtete Erzählung. Zu den lebensgeschichtlichen Interviews mit der Holocaust-Überlebenden Esther Bauer

Andrea Althaus, Linde Apel

Quellenbeschreibung

Bei der hier präsentierten Quelle handelt es sich um einen Ausschnitt aus einem lebensgeschichtlichen Interview mit Esther Bauer, das am 20.11.1998 von Jens Michelsen für die Werkstatt der Erinnerung (WdE), dem Oral History Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, geführt wurde. Es ist das zweite von fünf Interviews mit Esther Bauer, die in der WdE archiviert werden. Das Interview fand auf Initiative von Esther Bauer während ihres Aufenthaltes in Hamburg anlässlich der Benennung der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule nach ihrem Vater Alberto Jonas am 9.11.1998 statt. Die Aufzeichnung des gesamten Interviews (Audiokassette, digitalisiert) hat eine Länge von 120 Minuten und liegt in guter Tonqualität vor. Die Audioaufnahme wurde verschriftlicht. Das von Esther Bauer korrigierte Transkript umfasst 31 Seiten. Audioaufnahme und Transkript sowie weitere Interviews, persönliche Dokumente und Fotos von Esther Bauer werden in der Werkstatt der Erinnerung unter der Signatur FZH/WdE 112 archiviert.
  • Andrea Althaus
  • Linde Apel

Kurzbiografie von Esther Bauer


Esther Bauer (1924–2016) wurde als einzige Tochter von Alberto Jonas, dem Direktor der Israelitischen Töchterschule, und der Ärztin Marie Jonas, geb. Levinsohn, in Hamburg geboren. Sie wuchs in einem behüteten Umfeld auf und bemerkte anfangs die nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen kaum. 1940 musste die Familie jedoch ihre geräumige Wohnung im Hamburger Stadtteil Eppendorf verlassen und in ein sogenanntes „Judenhaus“ ziehen. Im Juli 1942 wurde die Familie nach Theresienstadt deportiert, wo der Vater kurze Zeit später ums Leben kam. Esther Bauer verliebte sich in den tschechischen Häftling Hanuš Leiner Hanuš (Honza) Leiner (1914-1945?) wurde 1941 aus seinem Geburtsort Prag nach Theresienstadt deportiert. Laut Esther Bauer war er in Theresienstadt als Koch tätig. Am 28.9.1944 wurde er nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Dieser Transport umfasste 2488 Personen, 2015 überlebten nicht. und heiratete ihn. Als ihr Mann 1944 in ein anderes Lager deportiert wurde, ließ sie sich ebenfalls in einen Transport einreihen. Esther Bauer landete in Auschwitz-Birkenau, wo sie nach wenigen Tagen zur Zwangsarbeit im KZ-Außenlager Freiberg eingeteilt wurde. Ihren Mann sah sie nie wieder. 1945 wurde sie, fast verhungert, auf einen Todesmarsch getrieben. Die Befreiung erlebte sie im KZ Mauthausen. Ihre Mutter wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet. Esther Bauer kehrte nach Hamburg zurück, wo ihr von der Besatzungsbehörde ein Zimmer in der elterlichen Wohnung in Eppendorf zugewiesen wurde. Dort lebte jedoch nach wie vor jener Mann, der die Wohnung übernommen hatte, nachdem die Familie in ein „Judenhaus“ umziehen musste. Angesichts dieser untragbaren Situation verließ Esther Bauer Hamburg und reiste wenig später in die USA aus. Sie heiratete erneut und arbeitete zunächst im Textilgeschäft ihres Mannes, später in einer großen Werbeagentur. Heute ist sie verwitwet, hat einen Sohn und zwei Enkelkinder. Sie lebt mit ihrem Lebensgefährten bei New York. Esther Bauer sorgte dafür, dass die ehemalige Israelitische Töchterschule, die von der Volkshochschule seit 1988 als Gedenk- und Bildungsstätte betrieben wird, nach ihrem Vater benannt wurde und setzte sich erfolgreich dafür ein, dass ein Platz in Hamburg-Eppendorf den Namen ihrer Mutter trägt. Seit einigen Jahren spricht sie in Deutschland und in den USA öffentlich über ihre Erfahrungen als NS-Verfolgte. Für diese Aufklärungsarbeit erhielt sie 2007 das Bundesverdienstkreuz. Ihre Lebensgeschichte inspirierte die Regisseurin Christiane Richers zu den Theaterstücken „Esther Leben“ und „Das ist Esther“.

Entstehungskontext des Interviews


„In den ersten 40 Jahren nach dem Krieg wollte kein Mensch etwas von meiner Geschichte wissen“, konstatiert Esther Bauer in einer Reportage über sie im Hamburger Abendblatt aus dem Jahr 2006. In dieser journalistisch zugespitzten Aussage spiegelt sich nicht nur die Tatsache, dass es Jahrzehnte dauerte, bis weite Teile der Gesellschaft Interesse an der Geschichte der jüdischen Opfer zeigten, sie kann auch als persönliche Genugtuung über das nun rege Interesse an ihrer Person gelesen werden. In den 1970er-Jahren setzte die Auseinandersetzung mit der Geschichte der NS-Zeit und des Holocaust ein, die die gegenwärtige opferorientierte Erinnerungskultur Deutschlands stark prägt. Nicht zuletzt aufgrund der medial begleiteten Gedenkfeiern anlässlich des 50. Jahrestags von Kriegsende und Befreiung Hamburger Senatskanzlei (Hrsg.), 50 Jahre Kriegsende. Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in Hamburg. Hamburg 1995., stieß die Auseinandersetzung mit Krieg und Nationalsozialismus weit über die Grenzen wissenschaftlicher Kreise hinaus auf großes öffentliches Interesse. Die zunehmende Angst vor dem „Versterben der Zeitzeugen“ löste Mitte der 1990er-Jahre einen Erinnerungsboom aus. Als die Werkstatt der Erinnerung 1990 mit dem Ziel gegründet wurde, Interviews mit Hamburger NS-Verfolgten zu sammeln, stand das Zusammentragen historischer Grundlageninformationen, insbesondere über die jüdische Geschichte Hamburgs zur Zeit der NS-Verfolgung, im Zentrum des Interesses. Heute dominiert im deutschsprachigen Raum in methodischer Hinsicht das biografisch-narrative Interview, das den Interviewten Raum zur eigenen Gestaltung der Lebensgeschichte lässt. Frühe Oral History Interviews sind stärker von Fragen der Interviewenden strukturiert, so auch dieses Interview mit Esther Bauer. Gerade die methodische Verankerung in dieser älteren Oral History Tradition erlaubt es, den Blick auf den „Eigen-Sinn“ (Alf Lüdtke) der Interviewten zu lenken. So prägten neben der erinnerungskulturellen Rahmung auch persönliche Anliegen der Interviewten den Entstehungskontext des Interviews. Esther Bauer, die 1998 nach Hamburg gereist war, um die Erinnerung an ihren deportierten und ermordeten Vater symbolisch wieder in die Stadt zurückzubringen, nutzte die Gelegenheit, um ihre Geschichte, die sie im ersten Interview nicht komplett erzählen konnte, zu vervollständigen.

Lesarten der ausgewählten Textpassage


Der Ausschnitt, der zugleich den Anfang des Interviews darstellt, beginnt mit der Frage des Interviewers nach der Erzählmotivation von Esther Bauer. Sie reagiert mit der unerwarteten Aussage, dass ihr Mann „furchtbar eifersüchtig“ gewesen sei, weswegen sie im ersten Interview aus dem Jahr 1993 eine wichtige Information, ihre Heirat in Theresienstadt, ausgelassen habe. Anschließend erzählt sie detailreich und lebhaft, wie sie ihren ersten Ehemann Hanuš Leiner kennenlernte und nach Auschwitz kam. Die zu einer in sich geschlossenen „Geschichte“ verdichtete Erzählung endet mit Esther Bauers Verlegung ins KZ-Außenlager Freiberg. Mit dem Hinweis „von da, ich glaube, das hatte ich schon erzählt…“ wird die Erzählung zum Bericht über die verschiedenen Stationen der Verfolgung, der in inhaltlicher Hinsicht mit dem Interview von 1993 übereinstimmt. Die ausgewählte Passage ist mehr als eine Liebesgeschichte. Sie ist in erzähllogischer Hinsicht ein Schlüsselmoment. Nur so kann die Zuhörerin oder der Zuhörer Esther Bauers Deutung folgen und verstehen, warum diese nach Auschwitz-Birkenau kam: „Und ich bin wohl eine der wenigen, die freiwillig nach Auschwitz gegangen ist.“ Die Hochzeit ist hier nicht (nur) ein einschneidendes biografisches und an diesem Ort unerwartetes Ereignis im Leben einer Frau, sondern ein zentraler Aspekt für das Verständnis ihrer Verfolgungsgeschichte. Mit der Erwähnung ihrer Liebesbeziehung kann sie ihre Zeit und ihr (Über-)Leben in Theresienstadt für sich und für ihr Publikum adäquat schildern: „Er [Hanuš Leiner] hat mir viel geholfen“, vor allem durch die Beschaffung von lebensnotwendigen zusätzlichen Essensrationen. Ihm habe sie auch zu verdanken, dass sie (und ihre Mutter) nicht wie die anderen „tausend Menschen aus Hamburg, Männer, Frauen, Kinder zusammen, keine Betten, nichts zum Hinsetzen, nur der Boden“ in einer Kaserne wohnen mussten. Die Betonung, dass sie Glück im Unglück gehabt habe und auch in gänzlich unerwarteten Momenten auf Menschen getroffen sei, die ihr halfen, ist ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch ihre Erzählungen zieht. Esther Bauer legt in den Interviews immer wieder den Fokus auf Freundschaften und hilfsbereite Gesten im nationalsozialistischen Terrorregime sowie auf das Wiedersehen mit tot geglaubten Menschen nach dem Krieg. Persönliche Begegnungen ermöglichten ihr das Über- und Weiterleben. Zum Zeitpunkt des ersten Interviews war ihre Hochzeit in Theresienstadt für Esther Bauer jedoch nicht sagbar, da ihr zweiter Ehemann Werner Bauer während des Interviews anwesend war. Nach seinem Tod wollte sie dieses biografisch relevante Ereignis nicht länger verschweigen. Anhand der Textpassage kann gezeigt werden, dass die Auswahl von Erlebnissen und Erfahrungen, die Eingang in eine lebensgeschichtliche Erzählung finden, sowie ihre Komposition zu einem kohärenten Ganzen stark mit der jeweils gegenwärtigen Situation zusammenhängen und folglich einem ständigen Wandel unterworfen sind.

Lebensgeschichtliche Interviews sind zwar von der Gegenwart geprägt, jedoch haben sie immer eine historische (Tiefen-)Dimension. Auch wenn sie keinen direkten Zugriff auf eine vergangene „Wirklichkeit“ erlauben, verweisen sie als „faktuale“ Texte auf den historischen Kontext, in dem sie verankert sind. So ermöglicht die Erzählung über ihre privilegierte Situation dank ihrer Beziehung zu einem tschechischen Häftling auch einen differenzierten Blick auf die Verhältnisse unter den Bewohnern und Bewohnerinnen im Getto und Durchgangslager Theresienstadt, in denen sich die Machthierarchien des Gettos widerspiegeln. In den sich herauskristallisierenden sozialen Strukturen der Gettogesellschaft erlangten insbesondere junge tschechische Männer in den sogenannten „Aufbaukommandos“ einen Status, der ihnen Zugang zu wichtigen Positionen und den Zugriff auf materielle Ressourcen Anna Hájková, Die fabelhaften Jungs aus Theresienstadt. Junge tschechische Männer als dominante soziale Elite im Theresienstädter Ghetto, in: Christoph Dieckmann/Babette Quinkert (Hrsg.), Im Ghetto 1939-1945. Neue Forschungen zu Alltag und Umfeld. Göttingen 2009, S. 116-135. (unter anderem in der Küche) sicherte. Ein Tauschhandel zwischen den Häftlingen von Liebe und Sexualität gegen Schutz und Privilegien gab es in allen Zwangslagern. Lange Zeit wurden diese Art von Beziehungen in Konzentrationslagern Maja Suderland, Ein Extremfall des Sozialen. Die Häftlingsgesellschaft in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Frankfurt 2009. und Gettos, insbesondere ihr materieller Aspekt, kaum in Erinnerungsberichten thematisiert und in der Forschungsliteratur aufgegriffen. Das Interview mit Esther Bauer bereichert die historische Forschung demnach auch auf inhaltlicher Ebene.

Fazit


Das hier präsentierte Interview kann in mehrfacher Hinsicht als „Schlüsseldokument“ der deutsch-jüdischen Geschichte bezeichnet werden. Erstens erfahren wir darin viel über den Umgang einer jüdischen „Überlebenden“ mit den Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung und über die Verarbeitung von Gewalterfahrungen und Verlust. Da mehr als ein Interview mit Esther Bauer überliefert ist, kann zweitens in einzigartiger Weise sichtbar gemacht werden, dass es sich dabei nicht um ein unveränderliches Bezeugen oder emotionales Beglaubigen von Aspekten der deutsch-jüdischen Geschichte handelt, worauf Aussagen von „Zeitzeugen“ im Zeitalter von Historisierung und Medialisierung des Holocausts häufig reduziert werden. An der ausgewählten Textpassage wird deutlich, dass es sich beim Erzählten immer um eine Erfahrungssynthese handelt, die von der gegenwärtigen Perspektive und Interviewsituation geprägt ist. Das Erkenntnisinteresse der Interviewenden und das Erzählinteresse der Interviewten, aktuelle erinnerungskulturelle Diskurse sowie der lebensgeschichtliche Kontext definieren, was in die Erzählung Eingang findet – was sagbar ist und was nicht. Esther Bauers erstes Interview ist nicht falsch, weil darin zentrale Informationen über ihre Heirat fehlen. Es steht vielmehr für ihre subjektive Weise zu bestimmten Zeitpunkten ihres Lebens mit ihrer Geschichte jeweils unterschiedlich umzugehen. Dieses erzählte Selbst- und Weltbild im Interview ist eine wertvolle Quelle für Historikerinnen und Historiker, die deutsch-jüdische Geschichte im Sinne einer Deutungsgeschichte schreiben wollen. Exemplarisch verweist der Interviewauszug nicht zuletzt auf eine bundesweit einzigartige Sammlung mündlicher Quellen jüdischer Hamburgerinnen und Hamburger in der Werkstatt der Erinnerung, in der an die 700 Erzählungen von NS-Verfolgten bewahrt und für Interessierte zur Nutzung in Forschung, Lehre und Bildung zugänglich sind.

Auswahlbibliografie


Linde Apel / Klaus David / Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Aus Hamburg in alle Welt. Lebensgeschichten jüdischer Verfolgter aus der Werkstatt der Erinnerung, München u.a. 2011.
Anna Hájková, Die fabelhaften Jungs aus Theresienstadt. Junge tschechische Männer als dominante soziale Elite im Theresienstädter Ghetto, in: Christoph Dieckmann/Babette Quinkert (Hrsg.), Im Ghetto 1939–1945. Neue Forschungen zu Alltag und Umfeld, Göttingen 2009, S. 116–135.
Hamburger Senatskanzlei (Hrsg.), 50 Jahre Kriegsende. Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in Hamburg, Hamburg 1995.
Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993.
Maja Suderland, Ein Extremfall des Sozialen. Die Häftlingsgesellschaft in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Frankfurt 2009.
Dorothee Wierling, Oral History, in: Michael Maurer (Hrsg.), Aufriss der Historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 81–151.

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Zu den Autorinnen

Andrea Althaus, M.A, geb. 1981, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Werkstatt der Erinnerung, dem Oral History-Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Oral History und Erzählforschung; Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts; Frauen- und Geschlechtergeschichte.

Linde Apel, Dr. phil., geb. 1963, ist Leiterin der Werkstatt der Erinnerung in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Oral History; Geschichte des Holocaust; Zeitgeschichte der 1960er und 1970er Jahre.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Andrea Althaus, Linde Apel, Erzählte Geschichte – geschichtete Erzählung. Zu den lebensgeschichtlichen Interviews mit der Holocaust-Überlebenden Esther Bauer, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-2.de.v1> [19.03.2024].

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